Der Judo-Sherpa

Kaum einer kennt die Stärken und Schwächen der Stoll-Zwillinge so genau wie Trainer Lorenz Trautmann. Auf ihrem gemeinsamen Weg kennt das Trio bis heute nur eine Richtung: nach oben. 

Lorenz Trautmann steht seit 25 Jahren auf und neben der Matte. Er lebt für den Leistungssport, trainiert die Judo-Elite Deutschlands. Die Rolle des 45-Jährigen ist vergleichbar mit der des Sherpas für Extrembergsteiger: Er begleitet seine Sportler auf dem Weg nach ganz oben. Und die danken es ihm mit Titeln – rund 20 Deutsche Meister, 5 Europameister und dazu Silber und Bronze bei Weltmeisterschaften sprechen für sich. Seine aktuellen Schützlinge Amelie und Theresa Stoll sind eine Premiere in seiner Karriere: Sie sind Zwillinge und bei all ihren Gemeinsamkeiten auf der Matte grundverschieden.


Trainingsbeginn in der Judohalle des TSV München Großhadern. Der Handschlag wirkt sehr vertraut, die Blicke und das Miteinander freundschaftlich. Kein Wunder, Trainer Lorenz Trautmann begleitet den Weg von Amelie und Theresa Stoll schon seit 17 Jahren, kennt die beiden von klein auf. „Wir waren bei ihm im Anfängerkurs Judo“, sagt Theresa und schmunzelt dabei, „er kennt uns sehr gut und damit auch all unsere Macken.“


Besonders schätzen die beiden an ihrem Coach, dass sie mit ihm offen und ehrlich reden können. Lorenz Trautmann ist nicht nur Trainer, sondern auch ein enger Vertrauter, ein echter Stoll-Insider. Sein Blick für die unterschiedlichen Charaktere, ihre Stärken und Schwächen, hilft ihnen immer wieder, gemeinsam Grenzen zu überwinden und weiterzukommen. Die von Lorenz Trautmann trainierten Judokas erzielen jährlich internationale Top-Platzierungen; 2016 hat der Deutsche Judo-Bund ihn als Trainer des Jahres ausgezeichnet.

Der Charakter bestimmt den Kampfstil

Auf der Matte achtet er genau darauf, dass die Schwestern ihre individuellen Stärken optimal zur Geltung bringen. Denn so ähnlich die beiden sich in vielen Dingen sind, ihre Kampfstile unterscheiden sich sehr deutlich voneinander. „Das sieht man allein schon an ihrer Statur“, sagt Trautmann. „Theresa ist für ihre Gewichtsklasse relativ groß, sie kämpft auch sehr aufrecht“, erklärt er. Amelie hingegen ist kleiner, hat einen tieferen Schwerpunkt und wendet deshalb zum Teil andere Techniken an.


Für Trautmann spiegeln die unterschiedlichen Kampfstile auch die verschiedenen Charaktere der beiden wider: „Amelie ruht mehr in sich, sie geht erst dann in die Offensive, wenn sich wirklich eine Chance ergibt.“ Ganz anders Theresa: „Sie ist sehr angriffslustig, manchmal ein bisschen aufbrausend, das sieht man recht deutlich auf der Matte.“ 

Eine starke Verbindung

Amelie und Theresa sind durch und durch Zwillinge. Sie verlassen sich zu jeder Zeit voll und ganz aufeinander und unterstützen sich gegenseitig. Lorenz Trautmann sieht diese starke Verbindung mit gemischten Gefühlen: „Das ist natürlich sehr positiv, weil sie sich gegenseitig motivieren und unterstützen, gerade wenn es mal nicht so läuft.“ Die Vertrautheit habe jedoch auch Auswirkungen auf die Trainingssteuerung – denn Amelie und Theresa kennen sich in- und auswendig. „Wenn Amelie links blinzelt, weiß Theresa, wo sie rechts hinmuss. Es ist aber wichtig, dass wir unterschiedliche Gegnertypen simulieren. Daher mischen wir die Trainingsgruppe immer wieder durch.“  

Keine geht allein nach Tokio

Amelie und Theresa trainieren hart, denn sie haben beide dasselbe große Ziel vor Augen: die Qualifikation für Tokio 2020. Das Wissen, dass es nur eine von beiden in ihrer Gewichtsklasse nach Japan schaffen kann, erhöht den Druck. Lorenz Trautmann sieht darin jedoch kein Hindernis: „Sie kennen diese Situation ja schon aus den Wettkämpfen in den Altersklassen U15, U18 und U21, sind also nicht unvorbereitet.“ Der Coach glaubt auch nicht, dass sich eine von beiden bei Rückschlägen hängen lassen wird – Amelie hat sich beispielsweise in der Vorbereitung am Ellenbogen verletzt und muss seither ihren Trainingsumfang reduzieren. Im Gegenteil: „Sie haben beide schon sehr früh verstanden, dass sie nur so stark sind, weil die andere da ist“, sagt Lorenz Trautmann. „Wenn jetzt nur eine von beiden die Qualifikation schafft, wird die andere weiter versuchen zu pushen, weil die Schwester dadurch noch mehr erreichen kann. Das ist auch für mich als Trainer ein fantastisches Gefühl.“ 

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