Das Beispiel Tiger Global zeigt, wie sich das globale VC-Geschäft verändert: In rasanter Geschwindigkeit und mit astronomischen Bewertungen sichert sich der Hedgefonds Anteile an Start-ups. Das hat Folgen auch für klassische Unternehmen.
Bis Ende Juli 2021 hat sich der US-Hedgefonds schon an mehr als doppelt so vielen Wachstumsunternehmen beteiligt als im gesamten Vorjahr. Obwohl der aktuelle Fonds über 6,7 Milliarden US-Dollar erst im März geschlossen wurde, war im Juni schon ein Großteil des Kapitals investiert. Knapp 180 Deals in sieben Monaten, mit dieser Geschwindigkeit kommt die etablierte Venture-Capital(VC)-Branche nicht mit. Das Besondere: Tiger Global kauft sich in erster Linie in Unicorns oder angehende Unicorns ein – Unternehmen, die mit mindestens einer Milliarde US-Dollar bewertet werden (und inzwischen deutlich häufiger sind als Einhörner). Anfang Juni war Tiger Global der Datenbank Crunchbase zufolge an 126 Einhörnern beteiligt, 48 davon waren seit Jahresanfang hinzugekommen. Zu den Beteiligungen gehören oder gehörten Facebook, Yandex, JD.com. Tiger Global gelingt das vor allem durch drei Faktoren: Die Investoren bieten deutlich höhere Bewertungen an als die Konkurrenz; sie sind sehr schnell in ihren Entscheidungen; sie mischen sich in der Regel nicht ins Geschäft ein, sondern bringen externe renommierte Unternehmensberater ins Spiel. Alle drei Aspekte machen sie bei Gründern sehr beliebt.
Damit verstößt Tiger Global Management, das mit weiteren Fonds auch in börsennotierte Unternehmen investiert, gegen die Usancen der VC-Branche. Bislang galt: Gründer und ihre Unternehmen werden intensiv geprüft und dann bei der Entwicklung unterstützt und begleitet. Als Schlüssel zum Erfolg gelten ein umfassendes Netzwerk zum Beispiel zu Hochschulen und Interim-Managern mit Erfahrung sowie ausgewiesene Branchenexpertise. Deals werden häufig gemeinsam, aber innerhalb eines ausgewählten Investorenkreises, abgeschlossen. Wer nicht zum erlauchten Kreis gehört, erfährt erst von den Investments, wenn die Finanzierungsrunde abgeschlossen wurde. Vorher herrscht Diskretion.
Doch das gelingt in Zeiten starker Investorenkonkurrenz um die aussichtsreichsten Tech-Unternehmen immer weniger. Es sind die Gründer selbst, die Tiger Global darüber informieren, wenn sie mit einem Top-Tier-VC-Investor in vertiefende Gespräche für eine Finanzierungsrunde eingestiegen sind. Tiger Global kann dann mit einem deutlich höheren Gebot und schnellerer Entscheidungsgeschwindigkeit den Prozess kapern. Deals werden in wenigen Tagen statt in Wochen abgeschlossen.
Auch die japanische Softbank nutzt diesen Ansatz: Schauen, was die Besten machen, und dann ein Angebot machen, das Gründer nicht ablehnen können. Allerdings ist es den Japanern nicht immer gelungen, wirklich Zugang zu den attraktivsten Unternehmen zu erhalten. Zudem machten Fehlinvestments wie WeWork Schlagzeilen und sorgten für viel Häme bei der VC-Konkurrenz. Doch das Urteil „Softbank ist nur ein Tourist, der im VC-Markt scheitern wird“, wie es mancher Venture Capitalist in den Medien streute, war voreilig. Trotz der öffentlichen Fehlschläge hat Softbank ihr erfolgreichstes Jahr abgeschlossen. Und sie investiert weiter. Der Softbank Vision Fund ist mit 100 Milliarden US-Dollar der größte Tech-Fonds der Welt. Im dritten Quartal 2021 hat Softbank mehr Lead- und Co-Lead-Investments abgeschlossen als alle anderen Investoren – noch vor Tiger Global.
Kann dieser Kaufrausch auf Dauer gutgehen? Auf Twitter machen Witze über die mangelhafte Due Diligence von Tiger Global die Runde. Anders können sich die VC-Wettbewerber die hohe Abschlussgeschwindigkeit nicht erklären. Tiger Global hält dagegen: Es werde weiter sorgfältig geprüft, vielen Kapitalgesuchen eine Absage erteilt. Noch ist es zu früh, um zu beurteilen, wie gut die Investmentauswahl ist. Erst in fünf bis acht Jahren wird klar sein, ob die Strategie aufgegangen ist. Wenn ja, ist der bisherige VC-Geschäftsansatz überholt.
Tiger Global ist kein Novize, Gründer Chase Coleman ist ein Zögling des legendären Hedgefonds-Managers Julian Robertson der Tiger Management Group. Das Unternehmen ist mittlerweile 20 Jahre alt und hat manche weniger und etliche sehr beeindruckende Jahre gezeigt. Unterm Strich haben die Private Tech Funds von Tiger Global ihren Investoren eine beeindruckende jährliche Rendite von durchschnittlich 26 Prozent nach Gebühren gebracht, kein Fonds hat Verlust gemacht. Kein Wunder, dass die Investoren ihre Einlagen kontinuierlich erhöhen.
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Tiger Global will noch im Oktober, etwa ein halbes Jahr nach Abschluss des Vorgängerfonds, seinen nächsten Fonds anbieten. Zielvolumen: 10 Milliarden US-Dollar – das sind etwa 50 Prozent mehr Volumen als beim aktuellen. Offenbar ist die erst in diesem Jahr rasant gestiegene Abschlussgeschwindigkeit die Antwort auf weiterwachsende Fondsgrößen: Die Investoren haben kein Interesse daran, dass ihre Gelder nicht abgerufen werden.
Zugleich ist die Zahl der Tech-Unternehmen und Teams limitiert: Nur den Besten wird es gelingen, den Markt zu ihren Gunsten zu verteilen und als Mono- oder Oligopolist zu dominieren. Tiger Global will darum unbedingt bei den Aussichtsreichsten dabei zu sein. Dabei scheuen die Investoren nicht davor zurück, konkurrierende Unternehmen mit vergleichbarem Geschäftsmodell ins Portfolio aufzunehmen. Auch das ist eigentlich unter VC-Investoren verpönt – schließlich hat man sorgfältig das aussichtsreichste Investment ausgewählt. Beobachter sprechen davon, dass Tiger Global einen Index für nicht-börsennotierte Tech-Unternehmen aufbaue.
Das ist teuer und könnte doch aufgehen: Selbst wenn Tiger deutlich mehr zahlt als die Konkurrenz, haben die Bewertungen für Tech-Unternehmen in der jüngeren Vergangenheit die Erwartungen der Früh- und Wachstumsphaseninvestoren deutlich übertroffen. Tiger Global hatte den Markt nicht-börsennotierter Tech-Unternehmen Anfang des Jahres auf 3 Billionen US-Dollar geschätzt; schon Mitte des Jahres sah der Fonds einen 5-Billionen-Dollar-Markt. Ein Fonds über 10 Milliarden US-Dollar könne maximal 2 Prozent an Bytedance, der Muttergesellschaft von TikTok, erwerben, schrieb Tiger Global an Investoren.
Im vergangenen Dezember hatte sich Tiger Global an einer Finanzierungsrunde des KI-Unternehmens Scale AI beteiligt – Bewertung 3,5 Milliarden US-Dollar. Vier Monate später stand die nächste Runde an, Tiger Global war wieder dabei. Die Bewertung hatte sich in den vier Monaten verdoppelt auf das 70-Fache des sich wiederholenden (recurring) Umsatzes. Doch Tiger Global bedauert bislang vor allem, aussichtsreiche Unternehmen nicht noch länger gehalten und Gewinne zu früh realisiert zu haben. Tiger Global hatte über mehrere Investmentrunden einen Anteil von 20 Prozent am Fitnessspezialisten Peloton erworben. Beim Börsengang im Herbst 2019 war der Anteil rund 2 Milliarden US-Dollar wert. Ein schöner Gewinn. Doch durch die Corona-Pandemie verfünffachte sich der Börsenkurs, mittlerweile liegt er immer noch etwa 4-mal so hoch wie beim IPO. Der Anteil von Tiger Global würde rund 6,5 Milliarden US-Dollar entsprechen – eine einzige Beteiligung wäre so viel wert wie der gesamte aktuelle Fonds beim Closing.
Es gibt bereits US-Fonds, die nachziehen und ähnlich vorgehen. Die klassischen Venture-Capital-Fonds geraten so in die Defensive. Ihre Alleinstellungsmerkmale sind für die Gründer nach einer erfolgreichen Finanzierungsrunde A weniger wertvoll – in aller Regel versuchen sie nach dem geglückten Auftakt vor allem die Bewertung zu maximieren und ansonsten möglichst unabhängig agieren zu können. Auch in Deutschland wird dieses Verhalten sichtbar. Obwohl Tiger Global vor allem auf China, Indien und die USA fokussiert ist, hat der Fonds in diesem Jahr/Quartal bereits mindestens 13 neue Investments in Europa abgeschlossen. Deutsche Unternehmen wie Bryter, Flaschenpost und der Gorillas-Konkurrent Jokr sind bereits ins Visier der Hochgeschwindigkeitsinvestoren geraten.
„Auch hierzulande ist zu beobachten, dass die Investoren durch die steigenden Kapitalzuflüsse in Bereiche vordringen, die sie bislang wegen zu großer Risiken gemieden haben.“
Bernd Rolinck, Deutsche Bank
Noch ist unklar, wie deutsche Venture-Capital-Fonds darauf reagieren werden. „Aber auch hierzulande ist zu beobachten, dass die Investoren durch die steigenden Kapitalzuflüsse in Bereiche vordringen, die sie bislang wegen zu großer Risiken gemieden haben“, berichtet Bernd Rolinck von der Deutschen Bank. Der Venture-Capital-Experte sieht seit wenigen Jahren beispielsweise vermehrt Investitionen in Deep-Tech-Unternehmen. Diese zeichnen sich durch die Entwicklung eigener Technologie aus. Weil diese Unternehmen lange und kostspielige Forschungsphasen haben – mit ungewissem Ausgang –, sind sie in der Vergangenheit weniger beliebt gewesen als beispielsweise Plattformunternehmen. Aber gelingt die Entwicklung zur Marktreife, winken strategische Vorteile durch exklusive Produkte, die Wettbewerber nicht so rasch imitieren können.
Diese Entwicklungen setzen nicht nur die etablierten VCs unter Druck – sie wirken sich auch auf strategische Unternehmen aus: Durch den massiven Mittelzufluss in ausgewählte Einhörner wachsen deren Möglichkeiten, schnell international Marktanteile zu erobern. Mit vollen Geldkoffern lassen sich leichter Top-Talente anwerben, länger Kampfpreise durchhalten, Werbekampagnen größer ausrollen und Konkurrenten aufkaufen. Je mehr Kapital Deep-Tech-Firmen erhalten, desto schneller können sie fortschrittliche Technologie entwickeln, die ihnen eine dominante Marktposition sichern kann. Beide Trends erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Disruptionen, etablierte operative Unternehmen können dabei schnell ins Hintertreffen geraten. Mit ihren bisherigen Stärken – einem langen Atem und fachlicher Expertise – werden sie es schwer haben gegen die superreichen Start-ups.
All diese Entwicklungen könnten auch wieder enden, sobald Kapital nicht mehr Überfluss vorhanden ist und nach renditestärkeren Alternativen sucht. Als Hedgefonds ist Tiger Global flexibel genug, sofort die eigene Strategie zu ändern. Die Venture-Capital-Fonds und die Unternehmen selbst sind deutlich flexibel.
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10/2021
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.