Die Geister-Supermärkte kommen

Gorillas, Flink & Co setzen mit schnellen Lebensmittellieferungen den Handel unter Druck. Die Investorengelder fließen, doch es gibt Zweifel am Geschäftsmodell. Aber die Start-ups könnten mehr verändern als nur den Lebensmittelhandel

Gorillas macht Tempo – auch beim Rollout ihrer Liefergebiete. Foto: Imago / Arnulf Hettrich

Gorillas macht Tempo – auch beim Rollout ihrer Liefergebiete. Foto: Imago / Arnulf Hettrich

Nur 10 Minuten nach Bestellung via App steht der Lebensmittellieferant von Gorillas bereits vor der Tür – das ist eine ganz neue Dimension von Liefergeschwindigkeit. In der Corona-Pandemie ist das Lieferaufkommen „bis nach Hause“ förmlich explodiert. Davon profitieren nicht nur Online-Händler, sondern auch Lieferando und andere Take-away-Lieferservices. Jahrelang hatte vor allem Amazon die Logistikbranche vor sich hergetrieben, sodass die Lieferzeiten deutlich gesunken sind. Durch die massive Nachfrage in Lockdown-Zeiten sind die Strukturen hier aber an ihre Grenzen gekommen.

Dafür haben Essenslieferdienste wie Just Eat Takeaway (in Deutschland unter der Marke Lieferando bekannt) und Delivery Hero (in Deutschland vormals durch Foodora bekannt, das inzwischen in Lieferando integriert worden ist) ihr Geschäftsmodell deutlich optimiert. Der bisherige Ansatz – Essen von Restaurants auszuliefern – wurde angesichts einer schwierigen Margensituation um sogenannte Ghost Kitchens erweitert. Dabei wird der Standort einer „Geisterküche“ danach gewählt, dass die Fahrtrouten optimal sind und in kurzer Zeit möglichst viele Kunden beliefert werden können. Da es keinen Gastraum gibt, kann die Ghost Kitchen virtuelle Marken führen und so in einer Küche asiatische Gerichte, US-Fastfood oder deutsche Klassiker zum Mitnehmen kochen. Das Menü kann auf Basis aktueller Nachfragedaten schnell angepasst werden, um die Auslastung zu optimieren.

Vorteil für die 10-Minuten-Lebensmittelhändler

Ein Großteil des Take-away-Geschäfts wird aber auf absehbare Zeit noch mit klassischen Restaurants gemacht. Mit den entsprechenden Nachteilen: Wartezeiten für die Essenskuriere beim Abholen und suboptimale Lieferwege. Lebensmittellieferanten wie Gorillas und seine Konkurrenten setzen darum von Anfang an auf „Geister-Supermärkte“. Die Lagen in engbesiedelten Innenstädten sind so ausgewählt, dass möglichst viele potenzielle Kunden in 10-E-Bike-Minuten erreicht werden können. Die Zahl der Lieferungen je Stunde und Fahrer liegt nach Angaben von Gorillas-Gründer Kagan Sümer deshalb auch deutlich über den Take-away-Quoten. Außerdem sei das Problem der Stoßzeiten im Supermarkt-Bereich weniger ausgeprägt. Das Warenangebot von Gorillas ist dabei vergleichbar mit kleinen Innenstadt-Supermärkten – aber Gorillas kann auf repräsentative Lagen mit hohen Mieten verzichten. Die Schwierigkeiten der City-Einzelhändler durch die Lockdowns könnten Gorillas den günstigen Zugriff auf weitere passende Lagen erleichtern.

2,6 Mrd. US$

ist die aktuelle Bewertung des türkischen Gorillas-Vorbilds Getir.

Der Wachstumsdrang ist enorm, die Finanzierung kein Problem: Schon neun Monate nach dem „Going live“ ist Gorillas mit mehr als 1 Milliarde Euro bewertet. Inzwischen gibt es in Deutschland 37 Liefergebiete in Großstädten, auch in den Niederlanden, Paris und London sind die Deutschen schon vertreten. Konkurrent Flink ist 25-mal in Deutschland präsent; das bislang auf Rhein-Ruhr konzentrierte Picnic verfügt in der Region über 18 „Hubs“. Aber auch das Gorillas-Vorbild, die türkische Getir (aktuelle Bewertung: 2,6 Milliarden US-Dollar), drängt nach Deutschland. „Die Nachfrage nach schnellen Lebensmittellieferungen besteht schon viel länger als das Angebot“, hat Rainer Münch, Food-Experte beim Beratungshaus Oliver Wyman, beobachtet. „Corona hat jetzt den Knoten platzen lassen.“ Sogar die Discounter, vermutet Münch, werden sich mit diesem Thema beschäftigen müssen.

Andere stationäre Lebensmittelketten wie Rewe und Edeka („Bringmeister“) waren zwar schon früh mit eigenen Lieferangeboten am Markt, doch hat die Pandemie schnell die Grenzen der Etablierten aufgezeigt. Edeka hat Bringmeister inzwischen verkauft, aber dafür die Beteiligung an Picnic erhöht. Rewe musste die etablierte Flatrate aussetzen, da die Nachfrage zu rasant gewachsen war. „Die eigenen Liefermodelle der etablierten Lebensmittelanbieter waren durchaus sinnvoll konzipiert, aber sie waren nicht auf diese Explosion der Nachfrage ausgelegt“, sagt Berater Münch.

„Die eigenen Liefermodelle der etablierten Lebensmittelanbieter waren durchaus sinnvoll konzipiert, aber sie waren nicht auf diese Explosion der Nachfrage ausgelegt.“

Rainer Münch, Berater Oliver Wyman

Keiner verdient Geld

So schnell sich die Start-ups auch ausbreiten, das Grundproblem ist bislang ungelöst: Die Lieferdienste verdienen kein Geld. Daran wird sich auch so schnell nichts ändern – im Gegenteil: Mit jeder Bestellung könnte das Minus sogar noch wachsen. Das Geschäftsmodell steckt in einer Nische fest: Der Bestellwert müsste deutlich steigen, um je Kunde mehr verdienen zu können. Doch das funktioniert nur, wenn das Warenangebot breiter wird und Kunden nicht mehr nur „Notfall“- und Spontankäufe, sondern auch den Wocheneinkauf von Gorillas liefern lassen.

Das ist ein hehres Ziel: Gorillas-Chef Sümer betont zwar, dass Untersuchungen zufolge ein Käufer nur 220 verschiedene Lebensmittelprodukte im Jahr erwirbt. Doch ihm ist bewusst, dass diese Auswahl eben von Käufer zu Käufer sehr unterschiedlich ausfällt. Das jetzige Angebot aus relativ hochpreisigen Markenprodukten, die eine bessere Marge versprechen, will er aber auch noch ausbauen. Sein Ziel ist es, etwa so viele Produkte vorrätig zu halten, wie es lange bei Discountern üblich war: zwischen 2.000 und 3.000. So will er auch den Durchschnittsumsatz je Kunde gen 30 Euro steigern. Berater Münch wirft ein: „Der Eindruck des Kunden, dass er nur eine eingeschränkte Auswahl hat, wird sich auch mit einem größeren Sortiment nicht verhindern lassen.“ Mit besserer Bevorratung und Auswahl lasse sich das Angebot zwar verbessern, aber Beschränkung habe immer ihren Preis. „Lebensmittelhändler versuchen sich regelmäßig an der Verkleinerung des Sortiments, indem sie die am wenigsten verkauften Waren streichen. Sie hoffen, die Kunden mit der verbleibenden Auswahl auf andere Produkte leiten zu können. Aber diese Einsparung geht immer auf Kosten des Umsatzes. Umsatz, der angesichts hoher Kosten schnell beim Profit fehlen kann.“

Wie Gorillas & Co. die Zukunft prägen

Die Neuen werden nachhaltig nur überleben können, wenn sie neue Erlösquellen erschließen. Sümer kann sich zwar Extraeinnahmen durch eine attraktive Platzierung von Produkten in der App vorstellen, wie man es von Amazon & Co. kennt. Doch fehlt ihm die Größe, um relevante Umsatzbeiträge zu erzielen. Dennoch können die Daten und der enge Kundenkontakt die Basis für weitere Geschäftsansätze wie Payment- oder Marktplatzmodelle darstellen. Bis dahin hat aber auch das reichlich kapitalisierte Gorillas noch einen weiten Weg vor sich: Zuerst muss sich die App bei vielen Kunden etablieren. Dann steht eine Marktkonsolidierung an, ohne die kein Anbieter die kritische Größe erreichen kann. Erst einmal ist aber eine Verschärfung des Wettbewerbs zu erwarten, weil auch Lieferando und das ebenfalls nach Deutschland drängende Uber Eats den Markt ins Visier nehmen könnten.

Berater Münch hat jedenfalls keinen Zweifel, dass die Online-Lebensmittelhändler nach dem Ende der Pandemie weiter gefragt sein werden. „Gorillas und andere Anbieter werden immer ein Kompromissangebot sein, aber sie bedienen eine Nachfragelücke.“ Dass sich das Modell direkt auf andere Handelssegmente erweitern lasse, erwartet Münch nicht. „Vielleicht wird das Sortiment um ein paar Standardkleidungsstücke wie Socken und T-Shirts erweitert. Aber bei Mode ist das Sortiment zu breit gefächert, da braucht es große Lager. Und in den meisten Segmenten muss es für den Kunden nicht so schnell gehen wie beim Essen.“
Die großen Discounter sowie Rewe und Edeka brauchen noch nicht zu zittern. Gorillas & Co. revolutionieren – wenn ihr Plan aufgeht – zunächst eine Nische. Mittelfristig, erwartet Münch, werden vor allem kleinere stationäre Lebensmittelfilialen in den Innenstädten und Tankstellenshops getroffen – und die Lieferdienste. Darüber hinaus blieben die Auswirkungen auf den Lebensmittelhandel überschaubar.

Das wesentliche Leistungsmerkmal der rasenden Radler könnte aber auf alle Branchen wirken: Die blitzschnelle Lieferung verändert die Anspruchshaltung der Kunden. Die Erfahrung, dass es jetzt noch schneller mit Lieferungen geht, wird die Erwartung an alle Lieferanten weiter steigern. Suboptimale Logistikprozesse werden sich Unternehmen dann noch weniger leisten können. Doch reibungslose Prozesse von der Online-Bestellung bis zur raschen Lieferung (und gegebenenfalls Rücknahme!) sind mittlerweile so komplex, dass viele Anbieter nicht mehr mithalten könnten. So werden Gorillas & Co. womöglich zum Totengräber zahlreicher träger Anbieter.

05/2021
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.