Wenn Metalle magisch werden

Werkstoffe der Zukunft: Mit Materialien, die ein Gedächtnis für ihre Form haben, ist Ingpuls zum wichtigen Zulieferer der Automobilindustrie aufgestiegen. Ein Expertenteam der Deutschen Bank hat das Potenzial der Innovation früh erkannt – und die Firma gefördert

Text: Ralf Mielke

Wenn Metalle magisch werden

Die Firma Ingpuls stellt in einem komplexen Prozess Formgedächtnislegierungen her. Dafür wird das Rohmaterial in Öfen eingeschmolzen und weiterverarbeitet FOTO: INGPULS

Zwei Hände verbiegen eine Büroklammer, bis sie nur noch ein schmaler, langer Draht ist. Nicht mehr zu gebrauchen. Im nächsten Moment lassen die Hände den Draht in eine Glasschüssel mit Wasser fallen. Keine Sekunde später ist aus ihm wieder eine Büroklammer geworden. Es ist ein kurzes Video auf YouTube – ein Glanzstück der Magie, so scheint es, wie zu den Hochzeiten von Uri Geller.

Mit Zauberei allerdings hat die Verwandlung nichts zu tun – die Büroklammer verfügt einfach nur über ein gutes Gedächtnis. Ihr Geheimnis liegt in der Metalllegierung, aus der sie besteht: Nickel und Titan. Sowie im Verhältnis der beiden Stoffe in dem Material. Denn dadurch wird aus ihm eine sogenannte Formgedächtnislegierung (FGL): Bei einer bestimmten Temperatur erinnern sich FGL-Produkte an ihre ursprüngliche Form oder wechseln je nach Temperatur ihre geometrische Beschaffenheit. Das bedeutet: Sie vollziehen Phasenumwandlungen, etwa zwischen verschiedenen Materialstrukturen wie Martensit (die sogenannte Niedertemperaturphase) und Austenit (Hochtemperaturphase). Höhere Mächte sind nicht am Werk – sondern Metallphysik.

„Wir können die Form, an die sich ein Produkt erinnern soll, in das Metall regelrecht hineinprogrammieren“, sagt Christian Großmann. Der Geschäftsführer von Ingpuls sitzt in einem schmucklosen Besprechungsraum, den die Firma in einem ehemaligen Werkstattgebäude der Zeche Heinrich Gustav in Bochum eingerichtet hat. Hier, mitten im Revier, wird seit Jahrzehnten keine Kohle mehr gefördert. Stattdessen werkelt Großmann an den Materialien der Zukunft. Er sagt: „Um eine genaue Form zu designen, brauchen wir nur das exakte Mischungsverhältnis der Legierung“, erklärt der Ingpuls-Gründer. „Und einen präzisen Herstellungsprozess aus Erhitzen, Abkühlen, Umformen.“ Vor allem aber braucht es eine Menge Wissen darüber, wie Metalle unter bestimmten Bedingungen reagieren.

Die Formen mit Gedächtnis sind günstiger und weniger störanfällig

Und das hat Großmann. Sein Studium an der Ruhr-Universität Bochum schloss er mit einer Promotion in Werkstoffwissenschaften ab. Gemeinsam mit seinen einstigen Kommilitonen André Kortmann und Burkhard Maaß, beide tragen ebenfalls den Doktortitel, gründete er im Jahr 2009 aus der Uni heraus die Firma Ingpuls. Büroklammern stellt sie nicht her, sondern vor allem Federn und andere Halbzeuge aus Formgedächtnislegierungen. Auf dem Tisch liegen einige Handvoll davon, außerdem Schrauben mit FGL-Muttern und kunststoffummantelte Ventile. „Wir sind weltweit Technologieführer bei diesen Produkten“, sagt Großmann ganz ohne falsche Bescheidenheit.

„Wir können die Form, an die sich ein Produkt erinnern soll, in das Metall regelrecht hinein- programmieren“

Christian Großmann, Geschäftsführer Ingpuls

Mehr als eine Million

Federn werden pro Jahr produziert

Mit Recht. Denn dank ihrer Expertise haben die drei Ingenieure FGL für neue Anwendungen jenseits der Medizintechnik erschlossen. „Formgedächtnislegierungen kennt man schon seit den 50er-Jahren“, erzählt Burkhard Maaß. „Der Einsatz in der Medizin beispielsweise in Stents oder Führungsdrähten ist schon lange weit verbreitet – darüber hinaus aber haben die Unternehmen die Entwicklung nicht vorangetrieben.“ Anders die drei Gründer aus Bochum. Auf den ersten Blick sehen ihre Federn unscheinbar aus, doch sie entfalten große Wirkung etwa in Kraftfahrzeugen, wo sie das Öffnen und Schließen von Ventilen steuern. Dort ersetzen sie elektronische Bauteile, weil sie weniger Platz brauchen sowie leichter, günstiger und weniger störanfällig sind.

Nicht von ungefähr kam der erste Auftrag für eine Serienproduktion aus der Automobilindustrie, das war 2015. Eigens dafür mussten die Jungunternehmer damals eine Produktionslinie errichten. Auf dem einstigen Zechengelände fanden sie eine leer stehende Halle, ganz in der Nähe ihrer Büros. Die Fabrik, die an ein Miniatur-Stahlwerk erinnert, mit „Hochöfen“ für die Metallschmelze, kleinen Walzen und Hämmern zur Metallverformung, ist heute gut ausgelastet. Mehr als drei Tonnen FGL produziert Ingpuls inzwischen pro Jahr, darunter mehr als eine Million Federn, Tendenz steigend. „Wir erreichen seit Kurzem eine hundertprozentige Fertigungstiefe“, sagt Großmann. Das heißt, das Produkt wird in Dutzenden Arbeitsschritten komplett aus dem Rohmaterial hergestellt. „Auf diese Weise können wir die Qualität garantieren“, sagt der Geschäftsführer. Fehlteile beim Kunden: bei einer Million Stück – null Prozent.

Das Expertenteam der Deutschen Bank öffnet Türen in der Branche

Das schnelle Wachstum stellte die Unternehmer vor Herausforderungen, denn allein mit Eigenkapital und den Erlösen aus dem Geschäftsbetrieb ließ es sich nicht mehr finanzieren. Spätestens 2016/17 wurde deutlich, dass es Kapitalbedarf gibt. „Venture Capital kam für uns zu dem Zeitpunkt nicht infrage“, sagt Großmann. „Denn wir haben eine Technologieplattform, die nur wenige verstehen und die wir weiterentwickeln müssen und wollen, auch international.“

An dem Punkt kommt Hans Remsing ins Spiel. Remsing leitet das Expertenteam Automotive & Engineering der Deutschen Bank. Er versteht etwas von Geld, klar. Wichtiger noch: Er versteht auch Automobiltechnik und den Automobilmarkt. Die Deutsche Bank unterhält fünf dieser Expertenteams, die jeweils für eine Zukunftsbranche zuständig sind – neben Automotive & Engineering sind das Greentech & Energy, Life Sciences, Hospitals und IT & Digital Business. In den Teams vereint sich technologische Expertise mit einem Verständnis für Geschäftsmodelle und dem Wissen um Branchentrends.

Bei Ingpuls, in Sichtweite des alten Förderturms der früheren Zeche, ist Hans Remsing nicht zum ersten Mal. Er begleitet die Firma bereits seit 2017, es ist eine fruchtbare Zusammenarbeit. „Ingpuls ist ein Teil der Mobilität von morgen“, sagt der Deutsche Bank Experte. Die Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit: „Herr Remsing ist ein Glücksfall für uns“, findet Großmann. „Er öffnete uns Türen, in der Bank und in der Branche.“

Ausgezeichnet als „Innovator des Jahres“

Wichtiger Nebeneffekt: Die Deutsche Bank mit ihrem Expertenteam wirkt als Katalysator für Geschäftsbeziehungen. Im Falle von Ingpuls etwa bestand schon ein erster Kontakt zu einem Investor, der grundsätzlich bereit war, mit einem Millionenbetrag in die junge Firma einzusteigen. Nach der CIT-Konferenz der Deutschen Bank 2018 aber, auf der sich innovative Unternehmen potenziellen Geldgebern präsentieren, ging dann alles ganz schnell: Noch im selben Jahr beteiligten sich die Gesellschafter des mittelständischen Federnherstellers Brand mit privatem Kapital an Ingpuls. Es ist eine strategische Partnerschaft, denn Ingpuls will weiter wachsen – als Zulieferer in der Automobilindustrie, aber auch in anderen Branchen. Denn: „Formgedächtnislegierungen bieten Lösungen in vielen Bereichen“, sagt Großmann. „Die Kunden wollen eine bestimmte Funktion, wir können Produkte designen, die individuell auf ihre Bedürfnisse angepasst sind.“ Im Blick hat das Unternehmen, das inzwischen 55 Mitarbeiter beschäftigt, als Nächstes die Medizintechnik, mittelfristig auch den Bereich Haushaltsgeräte.

Hans Remsing

„Scharnier zwischen Bankberatern und Unternehmen“

Drei Fragen an Hans Remsing, Leiter Expertenteam Automotive & Engineering

Großes Potenzial für industrielle Anwendungen sieht auch Martin Franz-Xaver Wagner in den Formgedächtnislegierungen. Wagner leitet seit Anfang 2010 den Lehrstuhl Werkstoffwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz. „Überall, wo temperaturgesteuert Bewegungen ausgelöst werden sollen, sind Produkte aus FGL gefragt“, sagt er. In Haushaltsgeräten könnten FGL Hebel und Schalter ersetzen – und in großen Industriewerkzeugen die Präzision erhöhen, indem sie immanente Materialverformungen ausgleichen. In der Luftfahrt könnten sie dabei helfen, während des Fluges die Gestalt von Tragflächen anzupassen, um so eine effektivere und energiesparende Flugweise zu ermöglichen. „Die Entwicklung steht noch am Anfang“, sagt der Forscher. Aber Ingpuls habe eine Tür geöffnet. „Und für uns Grundlagenforscher ist es immer eine zusätzliche Motivation, wenn wir sehen, dass unsere Forschungsergebnisse zu praktischen Anwendungen führen.“ Im vergangenen Jahr wurde die Firma beim renommierten „Top 100“-Preis als „Innovator des Jahres“ ausgezeichnet. Die Jury aus Wirtschaftsexperten lobte die bemerkenswerte Lösungskompetenz „sowohl in Bezug auf den Innovationsgrad der Produkte als auch mit Blick auf die internen Prozesse“. Fazit: Dem Start-up sei es dank eines erfinderischen Geistes gelungen, „eine seit Jahrzehnten bekannte Technologie in die industrielle Anwendung zu bringen. Die Markterfolge sowie die Organisationsentwicklung deuten darauf hin, dass ambitionierte Wachstumsziele realisiert werden können.“

Vertrauen zwischen Bank und Unternehmen ist die Basis für die weitere Entwicklung der Firma

Mit Hans Remsing besprechen die drei Unternehmer regelmäßig die nächsten Schritte. „Seine Kenntnisse helfen uns, Marktchancen richtig einzuschätzen“, sagt Großmann. Remsing wisse, wo die Potenziale liegen und wo Gefahren lauern. „Wir legen Wert auf sein Urteil“, so Großmann. „Gegenseitiges Vertrauen ist die Basis, um das Unternehmen gemeinsam weiterzuentwickeln“, sagt Hans Remsing. Er traut der Firma noch einiges zu. Und sein Wort hat Gewicht – auch bei den Kollegen, die bei der Deutschen Bank über die Vergabe von Krediten und Finanzierungen entscheiden. Remsings positives Urteil hat dazu beigetragen, dass sich die Deutsche Bank an der Finanzierung eines großen Zukunftsprojekts von Ingpuls mit einem Darlehen in Millionenhöhe beteiligt: dem Bau einer neuen Fabrikhalle mit den nächsten zwei Produktionslinien.

Noch in diesem Jahr soll das Werk den Betrieb aufnehmen. Es entsteht nur wenige Hundert Meter vom jetzigen Firmenstandort entfernt, direkt am Fuße eines alten Zechenturms. „Wir fühlen uns dem Standort Bochum, dem Revier und seiner Tradition verbunden“, sagt Großmann. Es ist Hightech mit historischen Wurzeln: Seit 100 Jahren ist Ingpuls das erste Unternehmen, das bei der IHK Mittleres Ruhrgebiet neu als Werkstoffproduzent eingetragen wurde.

Auf einen Blick: Was Ingpuls erfolgreich macht

  • Die Firma hat starke Wurzeln in der Wissenschaft: Die drei Gründer haben alle am Institut für Werkstoffe der Ruhr-Universität Bochum promoviert. Als junge Unternehmer konnten sie gegen Miete Räume des Instituts nutzen.
  • Eine hohe Werkstoffkompetenz zeichnet Ingpuls aus. So hat es das Unternehmen geschafft, Produkte aus Formgedächtnislegierungen in industrieller Serienproduktion herzustellen.
  • Ingpuls legt Wert darauf, eine hundertprozentige Fertigungstiefe zu erreichen – vom Rohmaterial bis zur fertigen Komponente. Das garantiert die Kontrolle über die Produktion und die Produkte. Ergebnis: null Reklamationen in Automotive-Serien.
  • Das Unternehmen Ingpuls wächst strategisch, indem es nach und nach Produkte für weitere Branchen jenseits der Automobilindustrie entwickelt. Das Wachstum finanzierten die drei Geschäftsführer durch Cashflow plus Private Equity aus der metallverarbeitenden Industrie.
  • Am Standort Bochum ist Ingpuls zugleich Ergebnis und Treiber des Strukturwandels. Mehrere Hochschulen versorgen den Arbeitsmarkt im Ruhrgebiet mit hoch qualifizierten Arbeitskräften. Unternehmen wie Ingpuls bieten Arbeitsplätze in Hightech-Branchen und schlagen so die Brücke zwischen Tradition und Moderne.

1/2020