Viel wurde in den vergangenen Jahren über Omnichannel geschrieben und gesprochen: Statt verschiedene Vertriebs- und Kommunikationskanäle nebeneinander laufen zu lassen, sollten sie miteinander verbunden werden, um das beobachtete Konsumentenverhalten mit verwobenen Online- und Offline-Aktivitäten abzubilden. Ein Beispiel: Erstes Stöbern im Geschäft, tiefergehende Informationen und Preisvergleich im Internet, Bestellung ebenfalls online – doch abgeholt (und gleich ausprobiert) wird das Produkt im stationären Geschäft. Oder: Stöbern vor Ort, paralleler Preisvergleich auf dem Handy, Kaufentscheidung wieder vor Ort, Bestellung wird nach Hause geschickt. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher „Customer Journeys“. Omnichannel verspricht, dem Kunden durch die enge Verzahnung der Möglichkeiten ein reibungsloses, vergleichbares Einkaufserlebnis zu bieten. Darum ist Omnichannel nicht nur eine Chance für den klassischen Handel, sondern auch für Hersteller von Konsumgütern.
Der Ansatz entpuppte sich als deutlich komplexer, als von den Strategen erdacht. Vor allem der technische Aufwand der Integration ist kaum zu managen. Mit jedem zusätzlichen Kanal, der integriert sein wollte, vervielfachte sich die Komplexität. 2017 machte der damalige Conrad-Electronic-Manager Jörg Dubiel eine einfache Rechnung auf: Ein Großteil der Kunden kaufe weiterhin „einkanalig“ – also nur Online oder nur im Ladengeschäft. Das Unternehmen könne alle Investitionen in diesem Kanal bündeln und dafür sorgen, besonders erfolgreich zu sein. Weil immer mehr Menschen online shoppen, haben viele Unternehmen einen Online-Kanal geöffnet, im Handel häufig auch schon mit einem Webshop. Beide Kanäle erreichen aber nicht die Kunden, die kanalübergreifend unterwegs sind. Im Jahr 2017 war das nicht schlimm: Laut Dubiel war das nur ein geringer Anteil aller Kunden von höchstens 5 Prozent. Durch die hohen Integrationskosten der Kanäle untereinander seien die Kosten je Omnichannel-Kunde sehr hoch, das Geld fehle woanders. Darum lohne sich die Investition kaum.
„Wer Kunden nicht die Leistungen bietet, die sie
wünschen, wird sie verlieren."
Alexander Broj, Cognizant
Doch die Zeiten haben sich geändert. Tatsächlich hatten noch vor Kurzem laut EHI-Studie „Omnichannel-Commerce 2019“ erst 274 der 1.000 umsatzstärksten Online-Shops ein Omnichannel-Konzept. Durch die Corona-Krise haben sich die Kundenanforderungen aber deutlich verändert. Dabei ist, konstatiert der „Ayden Retail Report 2020“, der Präsenzhandel für die Mehrheit der Konsumenten weiterhin der bevorzugte Kanal. Knapp drei Viertel der weltweit 25.000 Befragten erwarten aber, dass Unternehmen auch nach Ende der Corona-Pandemie die Flexibilität zwischen On- und Offline beibehalten. Kunden möchten über Kanalgrenzen hinweg betreut werden.
Das MXO-Modell
mehrere Kanäle; keine Verbindung
mehrere Kanäle; mit Verbindung
Kanäle werden unsichtbar; nahtloser Übergang; Kunde
im Mittelpunkt
Quelle: GS1
Nun ist der Wechsel zwischen Internetshopping und stationärem Handel zumindest bei größeren Handelsunternehmen nichts Neues. Doch im Lockdown haben auch kleine stationäre Einzelhändler erlebt, wie essenziell das Angebot mehrerer Vertriebskanäle ist, und Webshops angeboten. Dabei sind sie häufig schon einen Schritt weitergegangen und haben die beiden Kanäle miteinander verbunden: Der stationäre Fahrradhändler vergibt Beratungstermine online, der Touristiker stellt ein digitales Informations- und Buchungsterminal in seiner Filiale auf. Echtes Omnichannel ist das aber noch nicht, eher die Kombination unterschiedlicher Kanäle. Denn die entscheidende Aufgabe ist der Datenaustausch über Kanalgrenzen hinweg. „Online kennt das Unternehmen den Kunden, doch kommt er dann in den Laden, ist er ein unbeschriebenes Blatt“, erklärt Alexander Broj, Deutschlandchef der Beratungssparte des US-IT-Dienstleisters Cognizant. Viele Unternehmen versuchen, mit Kundenkarten o.Ä. auch im analogen Bereich einen Datentransfer herzustellen. Dabei geht es weniger um Rabattmarken, sondern um eine möglichst umfassende Historie des Kunden: Wann gab es eine Reklamation, welche Produkteigenschaften bevorzugt er, wie hat er seinen letzten Kauf getätigt. „Wer das leisten will, muss auch Hotline, Whatsapp und E-Mail-Kanal anbinden, damit keine Informationen verloren gehen“, sagt Broj.
Doch selbst Großunternehmen sind weit davon entfernt, diese unterschiedlichen Daten zu bündeln und auszutauschen. Stationäre Händler haben zwar den Trend zum Online-Shopping erkannt, aber häufig einen separaten unabhängigen Online-Bereich gebaut: zwei Datensilos, die kaum Austausch zulassen. Neue Shop-Systeme erleichtern heute die spätere Einführung von Omnichannel-Strategien, doch durch die Parallelentwicklung von Kanälen sind ganz unterschiedliche Identifikationskriterien innerhalb eines Unternehmens nicht ungewöhnlich.
der Kunden wünschen sich auch nach Corona Kanalflexibilität
Das Problem besteht nicht allein bei den Kundendaten – im Handel ist die Verfügbarkeit bei unterschiedlichen Vertriebskanälen häufig kaum zu ermitteln. Der große Sportbekleidungshersteller verkauft direkt über seine Website und seine exklusiven Stores, doch seine Ware ist ebenso bei Händlern on- und offline erhältlich. Niemand weiß, ob es den im Flagshipstore nicht vorrätigen Sportschuh in einer bestimmten Größe vielleicht beim Sporthändler drei Straßen weiter gibt. Selbst wenn der Großhändler ein Exemplar vorrätig hat, könnte es nicht einfach geordert werden. Dass die Systeme nicht miteinander kommunizieren können, kostet Umsatz. Die Lösung könnte nur in einer Vielzahl von Schnittstellen liegen – doch eine Standardisierung ist noch in weiter Ferne. Auch die Zuordnung von Umsätzen ist ein Problem. Welchen Anreiz hat ein stationärer Händler, seinen Lagerbestand auch online listen zu lassen, wenn er nicht am Verkaufserlös partizipiert? Wie kann verhindert werden, dass er sich für seine Umsätze nicht auf den Anstrengungen des Online-Kanals ausruht? Überzeugendes Omnichannel verhindert zudem die Zuordnung zu einem einzigen Kanal. Ein gut bekanntes Problem im Marketing, das deshalb meist zentral und ohne direkte Verkaufsbeteiligung geführt wird. Für ein Unternehmen wie Media Markt mit direkten Verkäufern, regionalen Store-Managern und Online-Vertrieb bedeutet die Erstellung eines „fairen“ Verteilschlüssels zwischen Incentivierung und Gießkanne eine echte Herausforderung. Hinzu kommt, dass stationäre Händler sich dagegen sperren, alle Produkte auch online zu listen, um bei der Preisgestaltung flexibel zu bleiben.
Angesichts dieser grundsätzlichen Fragen und des technischen Aufwands schrecken vor allem kleinere Unternehmen vor einer umfassenden Omnichannel-Strategie zurück. Ihr Problem: Die neuen Kanäle werden erst einmal bestehenden Umsatz kannibalisieren. Doch es gibt schlanke Lösungen: Marktplätze wie Sugartrends bieten gerade kleinen Unternehmen an, ihre Waren einzustellen und auch die Warenwirtschaft zu integrieren. Und eine Zahl macht Mut: Laut Ayden-Report gaben Kunden, die normalerweise im Laden kaufen, während der Pandemie beim Online-Shopping 40 Prozent mehr aus. Allerdings dürfte sich dieser Effekt bald wieder abschwächen, weshalb einige Unternehmen dazu tendieren, Kanäle zu ersetzen statt zu ergänzen. Im B2B-Bereich werden zum Beispiel klassische Außendienstler durch digitalen Vertrieb ersetzt. Dennoch ist der Omnichannel-Weg alternativlos, ist Cognizant-Manager Broj überzeugt: „Wer Kunden nicht die Leistungen bietet, die sie wünschen, wird sie verlieren.“
11/2020
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