Mehr und mehr Aspekte von Wirtschaft und Handel verlagern sich in den digitalen Raum. Diese Entwicklung war schon vor der Coronavirus-Krise deutlich. Die Pandemie aber verpasste der Digitalisierung einen radikalen Schub – eine Chance, aber auch eine Herausforderung für viele Betriebe. Denn laut einer Erhebung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) steuern rund 60 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Deutschland ihre Kernprozesse analog. Die Zahl, noch vor der Coronavirus-Krise erhoben, zeigt den Bedarf an Transformation, der sich krisenbedingt noch verstärken wird.
„Insbesondere Kleinunternehmen stehen in Sachen Digitalisierung oft noch ganz am Anfang und müssen deutlich aufholen“, sagt Achim Himmelreich, Vizepräsident des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW). „Sie haben vielleicht eine Website oder einen aktiven Social-Media-Kanal zur Ergänzung ihres bestehenden Modells – jedoch kein umfassendes digitales Gesamtkonzept.“ Jetzt bietet sich für die KMU die Gelegenheit, in der Kombination von stark serviceorientiertem stationärem Betrieb und professionell ausgebautem Onlineshop neue Kunden mit spezifischeren Angeboten anzusprechen und das Geschäftsmodell zu erweitern. Viele Betriebe haben in den vergangenen Wochen ihr Angebot im Netz bereits erweitert – von Internet-Fitnesskursen bis zu digitalen Modeschauen.
Gefragt sind individuell passende Lösungen
Doch Digitalisierung umfasst mehr als Onlineangebote, sie kann Abläufe in der gesamten Firma optimieren – in Buchhaltung, Produktion, Vertrieb und Marketing. Und: Digitale Prozesse lassen sich auf nahezu jedes Geschäftsmodell anwenden – ob Arztpraxis, Büro, Tischlerei, Restaurant oder Geschäft. Dabei ist es wichtig, die Bedeutung der Teilbereiche von Digitalisierung für den Betrieb einzuschätzen. Big-Data-Analysen, Robotik und Anwendungen der Künstlichen Intelligenz etwa werden eher für größere Unternehmen und komplexere Prozesse relevant sein. Dagegen dürften digitale Kundenkommunikation, die Automation von buchhalterischen Prozessen oder ein reibungsloser digitaler Zahlungsverkehr zu den grundlegenden Aspekten der Digitalisierung zählen, von denen alle kleinen und mittleren Unternehmen profitieren können.
Weil die Welt der KMU so vielfältig ist, gibt es für die digitale Transformation kaum übergreifende Standards. Gefragt sind zum Unternehmen passende Lösungen. Jedoch: „Nicht jedes Unternehmen muss individuell programmieren“, sagt Himmelreich. „Es gibt mittlerweile zum Glück eine große Anzahl von Baukästen, die Tools und Module bereitstellen, die man nutzen kann.“ Eine erste Anlaufstelle hierfür sind die Beratungsangebote der Industrie- und Handelskammern. Sie unterstützen auch bei der Erarbeitung einer Digitalstrategie.
Digitalisierung strategisch planen
Wenn der Wille zum digitalen Wandel da ist – wie könnten dann Planung und Umsetzung aussehen? Welche Ziele stehen im Fokus, welche technologischen Mittel sind notwendig, und welche Maßnahmen haben Priorität? Am Anfang der Digitalisierung eines Unternehmens sollte stets ein individueller Fahrplan stehen, eine Art Roadmap für Ihren Betrieb, die die wichtigsten Leitplanken festlegt und die Gegebenheiten sowie den Digitalisierungsgrad der Branche berücksichtigt.
Am Beispiel einer Möbeltischlerei mit rund zehn Mitarbeitern wird im Folgenden ein solcher Fahrplan modellhaft dargestellt – er wurde mit Unterstützung des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) und des Kompetenzzentrums Digitales Handwerk (KDH) erarbeitet. Das KDH, Teil der Förderinitiative „Mittelstand 4.0“ des Bundeswirtschaftsministeriums, hilft ebenso wie das Beraternetzwerk der örtlichen Handwerkskammern, digitale Lösungen zu finden und umzusetzen.
Die Digitalisierungs-Roadmap: Beispiel Möbeltischlerei
1. Markt und Branche verstehen
Ein guter Startpunkt für die eigene Digitalisierung ist der Blick auf die Branche und den Wettbewerb. Für das Deutsche Handwerk liegen aktuelle Zahlen vor: Laut einer Studie des Branchenverbands Bitkom und des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) vom März 2020 betrachten 66 Prozent der befragten Betriebe die Digitalisierung als Chance – doch 56 Prozent sehen darin auch eine Herausforderung.
Mehr als jeder zweite Handwerksbetrieb verwendet bereits digitale Technologien wie Cloud Computing, smarte Software oder 3D-Technologie, zehn Prozent setzen bereits auf vorausschauende Wartung mittels Digitaltechnologie. Für die Befragten überwiegen klar die Vorteile: Zeitersparnis, körperliche Entlastung, geringere Kosten oder optimierte Logistik. 65 Prozent versprechen sich von der Digitalisierung eine höhere Sichtbarkeit bei Kunden.
2. Bestandsaufnahme: Wo stehe ich?
Verschaffen Sie sich anschließend einen Überblick über den aktuellen Stand in Ihrem Betrieb: Welche Bereiche sind bereits digital? Welche sollten noch digitalisiert werden, um im Branchenvergleich nicht zurückzufallen? „Eine eigene Website ist für Tischlereien inzwischen Standard; auch digitale Buchhaltung ist weit verbreitet“, sagt Stephan Blank, Projektleiter im Kompetenzzentrum Digitales Handwerk (KDH). Anwendungen rund um das Internet of Things (IoT), etwa zur Wartung von Maschinen, finden im Handwerk dagegen bislang eher selten Anwendung und werden vereinzelt in Pilotprojekten umgesetzt.
3. Ziele: Was will ich erreichen?
Nach der Bestandsaufnahme sollten Sie Ihre individuellen Ziele bestimmen.
Betriebsintern könnten etwa Büroabläufe wie Buchhaltung, Auftragsabwicklung, Datenerfassung, Kundendatenbank oder Firmenfinanzen digitalisiert werden. Sinnvolle Digitalisierungsschritte in der Werkstatt sind beispielsweise die Vernetzung von Maschinen mittels Sensoren und die Nutzung von Datenbrillen, um die Maschinen besser vorausschauend warten oder bedienen zu können.
Nach außen steht vor allem der Kunde im Fokus: Ein Chatbot könnte Kommunikation und Kundenservice verbessern. Eine Website ließe sich ergänzen um einen Onlineshop sowie einen Produktkonfigurator, mit dem Kunden etwa einen Tisch nach ihren individuellen Wünschen gestalten und bestellen können. Der Phantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt: Eine Tischlerei aus dem Mittelrheingebiet etwa hat sogar einen „intelligenten“ Tisch mit IoT-Lösungen entwickelt. Im Tisch sind Sensoren verbaut, die beispielsweise anzeigen, wann das Holz wieder geölt werden sollte.
„Die Digitalisierung bietet gerade Handwerksbetrieben eine enorme Spannbreite an Möglichkeiten“, sagt Digitalexperte Blank. „Von der einfachen Optimierung interner Betriebsprozesse über eine verbesserte Kundenansprache bis hin zur Erweiterung bestehender oder der Entwicklung gänzlich neuer Geschäftsmodelle.“
4. Technologien und digitale Köpfe: Was brauche ich?
Die Basis für digitale Lösungen ist eine leistungsfähige Infrastruktur. Die Wahl der passenden Hard- und Softwarekomponenten ist die Grundlage jeder Digitalisierungsmaßnahme. „Die größte Herausforderung bei der Wahl neuer Technologien ist das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten sowie die zahlreichen Schnittstellen zu den jeweiligen Insellösungen“, erklärt Blank.
Ebenso wichtig: Schulungen für die Belegschaft. Die Geschäftsführung sollte die Mitarbeiter von vornherein eng in die Digitalisierungspläne einbinden und die Vorteile für Firma und Mitarbeiter erklären.
Entsprechende Maßnahmen zur Sicherung von Betriebs- und Kundendaten sind wichtige Voraussetzungen für die Digitalisierung des Unternehmens. Ein tragfähiges Sicherheitskonzept sollte Punkte enthalten wie:
- physische Sicherheit des Servers vor Brand, Überflutung etc.
- Firewall-Technik und Antivirenschutz
- sicherer Fernzugriff wie VPN
- Zugriffsrechte- und Passwortmanagement
- Datensicherung und Erfüllung der DSGVO-Anforderungen
- Datenarchivierung und Backup-Regelungen
Ein entscheidender Faktor sind auch hier Ihre Mitarbeiter. Sie müssen für das Thema Cybersicherheit sensibilisiert und geschult werden – etwa darin, keine Anhänge in Mails mit unbekanntem Absender zu öffnen oder regelmäßig ihre Passwörter zu wechseln.
Für die effektive Sicherung der IT-Systeme gegen Cyberangriffe hat das KDH gemeinsam mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) den „Routenplaner Cybersicherheit für Handwerksbetriebe“ entwickelt . Auch Perseus, ein Kooperationspartner der Deutschen Bank, bietet eine Onlineplattform an, mit der KMU ihren Betrieb gegen Hackerangriffe wappnen können. Es kann hilfreich sein, die getroffenen Sicherheitsmaßnahmen zertifizieren zu lassen.
5. Finanzierung: Wie viel kostet das?
Die Kosten variieren je nach Umfang und Komplexität des Digitalprojekts, eine erste grobe Einschätzung können Experten, etwa von den Beraternetzwerken der Handwerkskammern, im Idealfall bereits bei der Festlegung der Ziele (Punkt 3) geben. Eine allgemeine Aussage ist aber schwierig zu treffen, denn die Kosten für einzelne Maßnahmen variieren stark und sind für jedes Unternehmen individuell zu bestimmen. Doch die Ausgabe lohne sich, sagt Blank: „Viele Digitalisierungsmaßnahmen wirken sich positiv auf den Ressourceneinsatz aus und haben finanzielle Entlastungen zur Folge. Sie sind also eine Investition in die Zukunft des Betriebes.“
6. Umsetzung: Wie komme ich ans Ziel?
In einem Zeitplan sollten Sie festlegen, welcher Schritt wann erfolgen soll. Planen Sie ausreichend Puffer ein. Gerade während der Umstellung interner Prozesse werden Aufgaben zunächst mehr Zeit in Anspruch nehmen, da sie parallel analog und digital abgearbeitet werden und Mitarbeiter neue Routinen verinnerlichen müssen. Auch ein Stresstest ist wichtig, bevor das neue digitale Modell endgültig live geschaltet wird.
Digitale Chancen nutzen
Die digitale Transformation eines Betriebs kostet Zeit und Geld. Doch der organisatorische und finanzielle Aufwand kann sich vielfach lohnen – wenn Prozesse und Abläufe effizienter gestaltet oder neue Kundengruppen erschlossen werden können. So sagten in der Studie von Bitkom und ZDH 43 Prozent der befragten Firmen, dass sie durch die Digitalisierung neue Kunden gewinnen konnten. Jeder Schritt in Richtung Digitalisierung sollte daher auch zum Ziel haben, den Kundennutzen zu steigern – etwa durch besseren Service, individuellere Ansprache, stärker maßgeschneiderte Produkte oder einfachere Abläufe. Um Ihre Kundenansprache und -bindung zu verbessern. Fest steht: Der digitale Wandel wird nicht aufhören und je früher Sie sich damit auseinandersetzen, desto mehr können Sie davon profitieren.