Praxis – 08.01.2023
Aggressionen und Gewalt haben viele Mitarbeitende in Kliniken und Praxen schon erlebt. Wie man solche Situationen verhindert und sich schützt, wenn sie doch eintreten, erfahren die Teilnehmenden in einem Seminar der Ärztegenossenschaft Nord.
„Wenn es nicht bald losgeht, zünde ich die Praxis an.“ Drohungen wie diese sind zwar nicht unbedingt an der Tagesordnung in deutschen Arzt- und Zahnarztpraxen, aber viele Mitarbeitende haben solche und ähnliche Entgleisungen von aggressiven Patientinnen und Patienten schon gehört. Das gilt auch für die 16 Mitarbeitenden aus unterschiedlichen Praxen in Schleswig-Holstein, die sich an diesem Nachmittag in einem Raum der Wirtschaftsakademie Schleswig-Holstein in Lübeck treffen. Sie werden in den kommenden Stunden lernen, wie man mit aggressiven Menschen umgeht.
Die Ärztegenossenschaft Nord arbeitet bei diesem Seminar mit dem zertifizierten Anti-Gewalt-Trainer Kay Katzenmeier zusammen. Katzenmeier ist im Hauptberuf Kriminalhauptkommissar bei der Polizei Schleswig-Holstein und kennt Situationen mit aggressiven Menschen aus seiner Arbeit.
Als Beispiel nennt Katzenmeier das Bespucktwerden bei Demonstrationen. Das haben die Seminarteilnehmer zwar noch nicht erlebt, ihre eigenen Erfahrungen aber zeigen, weshalb sie gekommen sind: Sie mussten Patientinnen und Patienten ausweichen, die sich ihnen drohend in den Weg stellten. Sie haben erlebt, wie eine wütende Dame ihren Rollator durch die Praxis geworfen hat. Sie haben danebengestanden, als ein Patient so stark mit der Hand gegen eine Wand schlug, dass er anschließend ärztlich versorgt werden musste. Zwar ist von den Praxismitarbeitenden im Seminar bislang niemand Opfer körperlicher Gewalt geworden, aber die von ihnen geschilderten Situationen zeigen, dass es jederzeit passieren könnte.
Aktuelle Zahlen zu Gewalttaten in Arztpraxen liegen nicht vor. Eine Erhebung des Ärztemonitors durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung und den Virchowbund ergab, dass es im Jahr 2017 bundesweit täglich zu 73 Fällen körperlicher und zu 2.870 Fällen verbaler Gewalt gekommen sein soll.1
Die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer gehen unterschiedlich mit dem Thema um. Eine medizinische Fachangestellte berichtet, dass sie bei stark fordernd und aggressiv auftretenden Patientinnen und Patienten zittert und ihre Stimme nur noch schwer unter Kontrolle hat. Eine andere Teilnehmerin ist in solchen Situationen resoluter: „Ich lasse mir nichts gefallen. Ich habe beschlossen, dass ich kein Opfer bin.“
Eine der zentralen Botschaften, die Katzenmeier den Seminarteilnehmenden aus seiner beruflichen Erfahrung vermittelt: Sich nie als persönlichen Adressaten der Aggression auffassen und nicht versuchen, sich in die andere Person hineinzuversetzen. „Sie müssen den anderen weder verstehen noch ihn lieben. Behandeln Sie ihn einfach, wie Sie auch behandelt werden möchten.“ Das helfe zunächst, die größten Emotionen herauszunehmen. Besser aber ist es, Gewalt gar nicht erst zum Ausbruch kommen zu lassen. Katzenmeier: „Je früher Sie eine Eskalation wahrnehmen, desto einfacher ist die Deeskalation.“
Als Frühwarnsignale, um solche Patientinnen und Patienten zu erkennen, gelten etwa gesteigerte Tonhöhe und Lautstärke, geringe Körperdistanz, abweisender oder starrer Blick, drohende Gesten, verzerrte Gesichtszüge und hohe Körperspannung.
Wer solche Signale bei Patientinnen und Patienten wahrnimmt, sollte Kolleginnen und Kollegen mit ihnen nicht allein lassen, rät Katzenmeier. Oft helfe es schon, sich in Blickweite zu positionieren.
Aggressionen lassen sich aber auch verhindern, indem man das eigene Verhalten überdenkt. Eine unfreundliche Begrüßung durch das Personal am Praxistresen, kein Blickkontakt, mangelnde Wertschätzung während des Gesprächs etwa durch ständige telefonische Unterbrechungen, unbedachte oder abweisende Äußerungen über die Lebenslage der Patientinnen und Patienten, gelangweilte Gesten während des Patientenkontakts oder ein insgesamt herablassender, abwertender oder belehrender Kommunikationsstil, der den Mitarbeitenden nicht bewusst ist, können Aggressionen befördern oder erst entstehen lassen.
Um zu verhindern, dass sich Patientinnen und Patienten durch derartiges Verhalten zurückgesetzt fühlen und aggressiv reagieren, hilft die Reflexion im Kollegenkreis. „Sprechen Sie gemeinsam über Situationen, die Ihnen aufgefallen sind. Was war am Verhalten des Patienten besonders, was vielleicht an dem der Kollegin oder des Kollegen“, rät Katzenmeier.
Eine weitere Botschaft Katzenmeiers: Gewalttätige Menschen suchen sich in aller Regel die Mitmenschen als Opfer, die sich scheinbar nicht auf Augenhöhe bewegen, deren Körpersprache Angst signalisiert. Katzenmeier führte Untersuchungen an, wonach in brenzligen Situationen die Körpersprache zu 55 Prozent wahrgenommen wird und zu 38 Prozent die Stimme – der Inhalt der Worte dagegen spielt in solchen Situationen nur zu sieben Prozent eine Rolle.
Selten würden Menschen angegriffen, die Selbstbewusstsein ausstrahlen – „aufrecht, ohne hochnäsig zu wirken“, beschreibt Katzenmeier diese Haltung. Solche Menschen kennen ihre Fähigkeiten, aber auch ihre Grenzen und Eigenarten. „Für den aggressiven Typ ist er weder als Opfer noch als Feind zu erkennen. Der Aggressor kann also weder seinen Selbstwert durch einen einfachen Kampf aufbauen, noch muss er sein markiertes Gebiet verteidigen.“
1) Kassenärztliche Bundesvereinigung, Virchowbund, Brendan-Schmittmann-Stiftung, Ärztemonitor 2018, https://www.kbv.de/html/aerztemonitor.php
— Richten Sie Ihr Sprechzimmer so ein, dass der Fluchtweg zur Tür kurz und nicht durch die Patientin oder den Patienten blockiert ist.
— Sitzen Sie nie mit dem Rücken zur Tür. Sie müssen immer die Tür im Blick behalten, um reagieren zu können.
— Installieren Sie einen stillen Alarm: Auf Tastendruck erscheint dieser Alarm auf jedem Praxismonitor.
— Alarmieren Sie die Polizei und teilen Sie dies gewalttätigen Patientinnen und Patienten mit.
— Versuchen Sie, bedrohten Kolleginnen und Kollegen mit Unterstützung anderer zu helfen, ohne sich selbst zu gefährden.
— Stellen Sie sich gewaltbereiten Patientinnen und Patienten nicht in den Weg.
Die Ärztegenossenschaft Nord ist ein Zusammenschluss von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten in Schleswig-Holstein und Hamburg. Der Verbund wurde vor über 20 Jahren als Parallelorganisation zur KV gegründet und hat heute rund 1.900 Mitglieder. Die Genossenschaft schließt u. a. Selektivverträge mit Krankenkassen für ihre Mitglieder ab, managt kommunale Gesundheitszentren und bietet ihren Mitgliedern besondere Konditionen als Einkaufsgemeinschaft. In speziellen Seminaren wendet sie sich an Praxismitarbeitende, um ihnen Unterstützung für die Arbeit in den Praxen anzubieten.
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