Volkswirtschaft/Geldpolitik – 27.09.2023
Die wichtigsten Fakten:
Der Welthandel stagniert im Verhältnis zum globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit Jahren. Gründe dafür sind unter anderem schädliche Eingriffe in das Welthandelssystem, etwa in Bezug auf Zölle oder Technologietransfers. Exogene Schocks wie die Coronavirus-Pandemie, der Russland-Ukraine-Krieg und der Anstieg der Inflation haben seit der großen Finanzkrise 2009 das Welthandelssystem zusätzlich belastet. Hinzu kommt der in seinen Auswirkungen immer deutlicher werdende Klimawandel. Darüber hinaus belastet auch der politische und wirtschaftliche Konflikt der USA mit China den globalen Handel zunehmend. Allein die Entkopplung der beiden größten Volkswirtschaften der Welt könnte die globale Wirtschaftsleistung nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds um bis zu 7 Prozent schmälern1 – mit gravierenden Folgen für alle Länder der Erde.
Von einem „Ende der Globalisierung“ zu sprechen, erscheint aus Sicht der Deutschen Bank dennoch übertrieben. Denn der jüngste Rückgang des Welthandels im Vergleich zum Welt-BIP ist insgesamt gering und dürfte maßgeblich von den Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie getrieben gewesen sein. Der Handel bleibt somit wichtiger als noch vor einigen Jahrzehnten und könnte weiter zunehmen. Zur Beschreibung der aktuellen Entwicklungen könnte daher eher das Schlagwort der „großen Entkopplung“ angebracht sein. Dieses „Great Decoupling“ umfasst die Rückführung und Vereinfachung globaler Lieferketten und ist weniger ein Anzeichen für den Zusammenbruch als vielmehr ein Ausdruck sich ständig verändernder globaler Handelssysteme.
Insgesamt scheint das Welthandelssystem aktuell vor drei Hauptherausforderungen zu stehen:
Die Globalisierung ist kein neues Phänomen: Weltweite und regionale Handelsbeziehungen reichen Jahrtausende zurück. Mit Beginn der industriellen Revolution in Europa ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Versorgungsketten komplexer und der Abbau von Handelsbeschränkungen führte zu einem rapiden Anstieg des globalen Handels im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wie auch heute war die Technologie schon damals eine entscheidende Triebkraft des Wandels: Eisenbahnen, Motorschiffe und Automobile ermöglichten neue regionale und internationale Vertriebsnetze.
Nach dem Zweiten Weltkrieg leiteten logistische Innovationen eine neue Epoche der Globalisierung ein – sei es durch den verstärkten Einsatz von Holzpaletten oder die Containerisierung ab den 1950er-Jahren. Heute treiben die Computerisierung und Digitalisierung der Lieferketten den Fortschritt weiter voran. Nicht nur der Wert der gehandelten Waren und Dienstleistungen ist dadurch gestiegen, sondern auch deren Vielfalt. Parallel zur Technologie hat auch die Wirtschaftstheorie dazu beigetragen, die Globalisierung voranzutreiben bzw. sie zu erklären.
In den vergangenen Jahrzehnten ist der Welthandel immer komplexer geworden, vor allem durch die zunehmende Bedeutung des Handels mit Zwischenprodukten und Dienstleistungen, maßgeblich getrieben durch die Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation WTO im Jahr 2001. Dies hat die Unternehmen dazu ermutigt, die Lieferung von Primär- und Zwischenprodukten tiefer in die Produktionsprozesse zu integrieren. Eine solche vertikale Integration, neue Formen der Arbeitsteilung und die Erkenntnis, dass auch Dienstleistungen (einschließlich technologischen Know-hows und Bildung) exportiert werden können, führten zu mehr Effizienz – aber gleichzeitig auch zu höheren Lieferkettenrisiken, da die inländische Versorgung gegenüber exogenen Schocks anfälliger geworden ist.
Der weltweite Lebensstandard hat von der Zunahme des Welthandels profitiert, was zu einem dramatischen Rückgang der weltweiten Armut geführt hat: Von 1990 bis 2019 ist die globale Armutsquote von 36 Prozent auf 9,3 Prozent gesunken.2 Gleichzeitig stieg der Anteil der Entwicklungsländer an den weltweiten Exporten von 16 Prozent auf 30 Prozent an.3 Allerdings hat der liberalisierte Welthandel dabei zu Szenarien geführt, in denen die Gewinne nicht gleichmäßig auf die inländischen Arbeitsmärkte verteilt wurden. Diese Ungleichgewichte haben vermutlich zu einer Antiglobalisierungsstimmung beigetragen und im Außenhandel die internationalen Spannungen verstärkt. Es entstand dadurch ein Konflikt zwischen den Kräften der Globalisierung und der nationalen Souveränität4 – auf Länder- und auf Unternehmensebene.
Die beiden größten Volkswirtschaften der Welt, die USA und China, sind in hohem Maße voneinander abhängig.
Eine wirtschaftliche Abkopplung der USA und Chinas würde die Weltwirtschaft lähmen, vor allem Länder mit niedrigen Einkommen sowie solche abseits der USA, Chinas und deren jeweiligen Verbündeten. Diese „Drittländer“ würden zum Beispiel nicht mehr in den Genuss von Technologie-Spill-overs aus den reicheren Gebieten kommen. Zudem könnten sie gezwungen sein, ausschließlich mit einem der beiden dominanten Blöcke zu handeln anstatt mit mehreren Handelspartnern, wie es heute Standard ist. Die Weltbank schätzt, dass bei einem Vertrauensverlust der Investoren aufgrund zunehmender Spannungen zwischen den beiden mächtigsten Volkswirtschaften bis 2030 weltweit 30 bis 50 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze rutschen könnten.7
Die Spannungen zwischen den USA und China stellen eine unmittelbare Bedrohung auch für die globalen Hightechlieferketten dar. Diese sind besonders anfällig, da sie stark vom freien, grenzüberschreitenden Handel abhängig sind. Denn die Technologielieferketten sind multinational und komplex. Ein Beispiel dafür ist die Halbleiterindustrie: Allein Taiwans größtes Halbleiterunternehmen hatte im Jahr 2022 einen Marktanteil von 55 Prozent an der weltweiten Halbleiterherstellung und produzierte 90 Prozent der modernsten Halbleiter. Gleichzeitig dominieren die USA den vorgelagerten Teil der Lieferketten und haben den größten Anteil am fortschrittlichen Chipdesign. China hingegen produziert hauptsächlich geringerwertige Komponenten, will seine Chipindustrie im Rahmen seines 5-Jahres-Plans bis 2025 aber ausbauen.
Eine durch geopolitische Spannungen ausgelöste Unterbrechung der Halbleiterlieferkette hätte weltweite und sektorübergreifende Auswirkungen. Im Jahr 2021 waren Halbleiter nach Rohöl das am zweithäufigsten gehandelte Produkt und machten 15 Prozent des weltweiten Warenhandels aus.8 Das lokale Ersetzen bestehender internationaler Lieferketten würde viele Jahre dauern und wäre nicht kosteneffizient.
Die Technologiebranche veranschaulicht noch ein anderes grundlegendes Problem der Globalisierung: Der Handel mit Rohstoffen ist anfällig für geopolitische Einmischungen, insbesondere wenn die potenziellen Bezugsquellen begrenzt sind, wie im Fall der seltenen Erden. China produzierte im Jahr 2022 70 Prozent der weltweiten seltenen Erden9, während die USA 74 Prozent „ihrer“ seltenen Erden, die für mehr als 200 kommerzielle Produkte und Batterien für Elektrofahrzeuge benötigt werden, aus China importieren musste.10
Als Reaktion auf die US-Chipkontrollen hat China Ausfuhrverbote und -beschränkungen von Technologien zur Gewinnung, Verarbeitung und Nutzung von seltenen Erden sowie von seltenen Erden selbst verhängt. Dies sind nicht die ersten Handelsinterventionen. Insgesamt hat die Zahl der diskriminierenden oder schädlichen neuen Handelsinterventionen im Hochtechnologiebereich seit 2009 um fast 700 Prozent zugenommen. Langfristig droht durch solche Maßnahmen eine Entkopplung im Technologiebereich zwischen den USA und ihren Verbündeten auf der einen Seite und China und seinen Verbündeten auf der anderen Seite. Selbst wenn eine wirtschaftliche Entkopplung nur bei elektronischen Geräten eintreten würde, könnten die BIP-Verluste für ein betroffenes Land bis zu 1,9 Prozent betragen.11
Lebensmittel sind eine der großen, aber unvollendeten Erfolgsgeschichten der Globalisierung. Einerseits haben der globale Handel und Verbesserungen in der Agrartechnologie Verbrauchern in vielen Volkswirtschaften einen verlässlichen Zugang zu einer breiten Palette von Lebensmitteln ermöglicht. Andererseits ist das Problem der Ernährungssicherheit für weniger wohlhabende Menschen und Volkswirtschaften nie wirklich verschwunden und könnte sich nun sogar verschärfen.
Gründe dafür sind erstens die wachsende Weltbevölkerung und zweitens die Notwendigkeit einer höheren Produktion unter zunehmend schwierigeren Umweltbedingungen – Stichwort Klimawandel. So sind in den vergangenen 60 Jahren die weltweiten erneuerbaren Wasserressourcen pro Kopf um 60 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig schätzt die UNO, dass die Bodendegradation mehr als 10 Prozent des weltweiten jährlichen BIPs kosten wird und 52 Prozent aller landwirtschaftlichen Nutzflächen bedroht.12
Abgesehen von Umweltfragen wirft der globale Lebensmittelhandel weitere Fragen auf, die mit der Globalisierung verbunden sind. Denn die Diversifizierung des Angebots und die Nachhaltigkeit der Lieferketten sind nicht gleichzusetzen. Auf internationaler Ebene kann die Konzentration der landwirtschaftlichen Produktion in einigen wenigen Erzeugerländern zu kurzfristigen Kosteneffizienzgewinnen führen – jedoch gleichzeitig die Risiken von Ereignissen wie Ernteausfällen oder regionalen Konflikten erhöhen. Außerdem kann die Spezialisierung aus Sicht des Importeurs auch zu einer größeren Abhängigkeit vom überregionalen Lebensmittelhandel führen. Ein aktuelles Beispiel dafür sind die Auswirkungen des Krieges zwischen Russland und der Ukraine auf die Weizenproduktion, unter denen vor allem Länder zu leiden haben, die bereits mit einer prekären Ernährungssicherheit zu kämpfen haben. Insgesamt hat das Zerbrechen multilateraler Rahmenwerke und das Wiederaufleben des Wettbewerbs zwischen Großmächten die Ernährungssicherheit stark gefährdet.
Viele dieser Probleme sind nicht auf das globale Lebensmittelsystem beschränkt. Versorgungsunsicherheit und unzureichende lokale Kontrolle sind auch für viele andere Sektoren von großer Bedeutung, darunter Energie.
Regulierungsanforderungen und technologischer Wandel werden den Energiesektor nachhaltiger machen. Dieser Übergang wird nicht nur Änderungen bei der Energieerzeugung erfordern, sondern auch eine andere Art und Weise, wie Energie verteilt, gespeichert und verbraucht wird. Dies wirft neue Fragen in Bezug auf mineralische Ressourcen, Energiespeicherung und der angemessenen Nutzung von Land- und Meeresressourcen auf – welche die gesamte Energiewertschöpfungskette verändern werden. Möglicherweise kann dadurch dem globalen Süden eine größere Rolle zurückgegeben werden, wenn diese Volkswirtschaften die notwendige Infrastruktur entwickeln können, um die neuen Energiequellen zu ihrem wirtschaftlichen und sozialen Vorteil zu nutzen. Eine verlässliche und zugängliche Energieversorgung ist notwendig für alle Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung im globalen Süden und anderswo – einschließlich Transportwesen, Industrialisierung und Hausenergieversorgung. Energie wird daher eine Schlüsselkomponente des „gerechten Übergangs“ zu einem nachhaltigeren Wirtschaftsmodell sein.
Der Globalisierungsstress wird wahrscheinlich weiter zunehmen. Internationale Organisationen und Regierungen dürften durch diese Entwicklungen stark gefordert bleiben: Es besteht die Gefahr bilateraler Alleingänge, die zu sich überschneidenden, manchmal widersprüchlichen Freihandelsabkommen führen könnten. Effizienz, Gerechtigkeit und Umwelt werden dabei auch weiterhin nicht immer in Einklang zu bringen sein. Insgesamt bedeutet die Entkopplung von Lieferketten und Handelsbeziehungen zwar nicht das Ende der Globalisierung – ein Umdenken aber ist überfällig.
1 Aiyra et al (2023), „Geoeconomic Fragmentation and the Future of Multilateralism“, IMF Staff Discussion Notes, abgerufen über https://www.imf.org/en/Publications/Staff-Discussion- Notes/Issues/2023/01/11/Geo-Economic-Fragmentation-and-the-Future-of-Multilateralism-527266?cid=bl-com-SDNEA2023001 am 25. Mai 2023.
2 Our World in Data
3 World Bank (2023), „Trade Has Been a Powerful Driver of Economic Development and Poverty Reduction“, abgerufen über https://www.worldbank.org/en/topic/trade/brief/trade-has-been-a-powerful-driver-of-economic-development-and-poverty-reduction am 25. Mai 2023.
4 Rodrik, D. (2011), „The Globalization Paradox: Why Global Markets, States and Democracy Can’t Coexist“, Oxford University Press.
5 Haver Analytics.
6 U.S. Treasury and Federal Reserve Board data. Abgerufen von https://ticdata.treasury.gov/Publish/mfh.txt am 25. Mai 2023.
7 Daten des IWF.
8 Daten von Observatory of Economic Complexity (OEC).
9 Marion Laboure and Cassidy Ainsworth-Grace (June 2023), „Tangled Wires: The Geopolitical Landscape of Semiconductors & Rare Earth Metals“, abgerufen von https://research.db.com/ Research/TinyUrl/D5H74 am 12. Juni 2023. Daten vom U.S. Geological Survey.
10 Vgl. Fußnote 8.
11 Bekkers E. and Goes C (2022), „The Impact of Geopolitical Conflicts on Trade, Growth and Innovation“ (World Trade Organization Staff Working Paper), abgerufen von https://www.wto. org/english/res_e/reser_e/ersd202209_e.htm am 25. Mai 2023.
12 China Ministry of Commerce (2022), Proposal for Revisions to „the List of Technologies Prohibited and Restricted from Export of PRC“.
Die Federal Reserve (Fed) ist die Zentralbank der Vereinigten Staaten. Ihr Federal Open Market Committee (FOMC) trifft sich, um die Zinspolitik festzulegen.
Unter großer Entkopplung versteht man den angeblichen Bruch der Handels- und Investitionsbeziehungen zwischen Volkswirtschaften.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) wurde 1994 gegründet, umfasst aktuell 189 Länder und setzt sich für die Förderung der internationalen Währungskooperation, der Wechselkursstabilität und der wirtschaftlichen Entwicklung im weiteren Sinne ein.
Seltene Erden sind „weiche“ Schwermetalle, die in verschiedenen industriellen Prozessen Verwendung finden, unter anderem bei der Herstellung elektronischer und elektrischer Komponenten.
Die Weltbank wurde 1944 gegründet und vergibt Kredite an Länder für Kapitalinvestitionen. Sie besteht aus der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (International Bank for Reconstruction and Development, IBRD) und der International Development Association (IDA).
Die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) ist eine 1995 gegründete zwischenstaatliche Organisation, die einen Rahmen für Handelsabkommen bietet.
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Redaktionsschluss: 13.09.2023