Volkswirtschaft/Geldpolitik – 04.10.2023
Die wichtigsten Fakten:
Die Konjunktur in Deutschland zeigt sich weiter schwach und bewegt sich unter Schwankungen entlang der Nullwachstumslinie. In den Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wurde Deutschland kürzlich als einziges Land der G7 (Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Vereinigtes Königreich, USA, Deutschland) genannt, dessen Wirtschaft im Jahr 2023 schrumpfen könnte.1 Die meisten Ökonomen prognostizieren daher schwierige Zeiten für Europas größte Volkswirtschaft.
Dabei hatte die deutsche Wirtschaft die Folgen der Covid-Pandemiekrise im Jahr 2020 vergleichsweise gut verkraftet. Fiskalische Unterstützungsmaßnahmen wie die sehr erfolgreiche staatlich subventionierte Kurzarbeit halfen dabei, den Verlust von Arbeitsstunden gering zu halten. Dadurch wurde die Einkommensbasis der arbeitenden Bevölkerung zu einem großen Teil bewahrt und ein stärkerer Rückgang der Binnennachfrage verhindert. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine versetzte der deutschen Wirtschaft dann jedoch einen deutlichen Rückschlag. Denn der Krieg und die Sanktionen gegen Russland führten zu einem erheblichen Anstieg der Rohstoff-, allen voran der Erdgaspreise. Die Rahmenbedingungen für den Außenhandel verschlechterten sich nicht nur im Verhältnis zu Russland, sondern auch gegenüber China. Die vergleichsweise restriktive Haltung Chinas in der Covid-Pandemie führte zu Lieferkettenproblemen und zu intensivierten Anstrengungen deutscher Unternehmen, ihre Basis für die Lieferung von Vorprodukten zu verbreitern und den Warenverkehr zu diversifizieren. Auch die zunehmende Verhärtung der Positionen im Außenhandel zwischen den USA und China trug zu dieser Entwicklung bei.
Nach dem externen Schock des russischen Kriegs gegen die Ukraine nahm die deutsche Regierung zudem Budgetumschichtungen vor, um einen stärkeren Fokus auf die eigene Sicherheit und Militärausgaben legen zu können. Diese Mittel stehen damit für zahlreiche andere notwendige strukturelle Reformmaßnahmen nicht mehr zur Verfügung.
Der aktuelle Schwachpunkt der deutschen Wirtschaft ist das verarbeitende Gewerbe. Der Einkaufsmanagerindex (EMI) für den Sektor liegt seit Mitte 2022 unter 50 Punkten. Die schwache Weltwirtschaft und der schwächer als erwartet ausgefallene Wachstumsimpuls aus China dürften die Stimmung bei den produzierenden Unternehmen getrübt haben. Erschwerend kommt hinzu, dass der Index für die Auftragseingänge noch weiter auf 32,7 Punkte gesunken ist, was darauf hindeutet, dass die Industrieunternehmen mittelfristig kaum mit einer Verbesserung rechnen.
Betrachtet man harte Daten, erscheint die Schwäche im deutschen verarbeitenden Gewerbe weniger ausgeprägt. Die Industrieproduktion (IP) etwa bewegt sich seit 2020 weitgehend seitwärts. Allerdings hat sich zwischen den verschiedenen Industriezweigen eine große Produktionslücke aufgetan. Die energieintensiven Industrien haben sich vom Gaspreisschock 2022 noch nicht erholt. In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres sank die Produktionsleistung in der chemischen Industrie um 17,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Auch die Baustoffindustrie (-18 Prozent) und die Papierindustrie (-14 Prozent) gingen zurück. Grundsätzlich bleibt fraglich, ob diese Industrien jemals zu den früheren Produktionsniveaus zurückkehren werden. Denn die Energiepreise werden sich voraussichtlich auf einem höheren Niveau als vor dem Russland-Ukraine-Krieg einpendeln. Das kann es für Unternehmen interessant machen, energieintensive Produktionsteile in Länder mit günstigerer Energieversorgung zu verlagern. Im Gegensatz dazu haben Sektoren wie Lebensmittel und Getränke, Möbel und Kraftfahrzeuge in letzter Zeit ihre Produktion gesteigert.
Im Vergleich zur verarbeitenden Industrie war die Stimmung im Dienstleistungssektor bisher robust, wobei sich der entsprechende EMI durchweg im expansiven Bereich befand. Allerdings fiel er kürzlich auch unter die 50-Punkte-Marke, was auf eine Verschlechterung der Stimmung hindeutet. Dagegen erholten sich die Einzelhandelsumsätze in den letzten Monaten wieder etwas ebenso wie das Konsumentenvertrauen. Wir gehen davon aus, dass der private Konsum im weiteren Verlauf des Jahres schneller aufholen könnte, da die Inflation zurückgeht und das Reallohnwachstum wieder positiv wird. Auch Rentner könnten den Konsum stützen, nachdem zum 1. Juli die Zahlungen für rund 21 Millionen Bezieher von Altersbezügen um 4,39 Prozent im Westen und 5,86 Prozent im Osten angehoben wurden.
Ein weiteres positives Element für die Angebotsseite ist, dass die Lieferkettenprobleme zunehmend nachzulassen scheinen. Auch die Lagerbestände, welche vor allem in der Pandemie stark aufgebaut worden waren, werden allmählich reduziert. Insgesamt bleibt die inländische Investitionsnachfrage jedoch schwach. Die Gründe dafür dürften nicht nur konjunktureller, sondern zu einem großen Anteil auch struktureller Natur sein. Aufgrund der zentralen Rolle von Energie für Konsum und Produktion stellen der Ausfall der Versorgung mit russischem Erdgas und die Umstellung auf erneuerbare Energien eine große Herausforderung dar. Dieser Umstellungsprozess ist nämlich nach wie vor mit erheblichen Unsicherheiten verbunden:
Die notwendigen strukturellen Reformen und Anpassungsprozesse können nur gelingen, wenn ein Großteil der Bevölkerung für diese Maßnahmen gewonnen werden kann und wenn das Ideenpotenzial und die Kreativität der Betroffenen in die Umstellungsprozesse einfließen. Dies ist umso wichtiger, als die mit der Komplexität einhergehenden Unsicherheiten zu einer Zurückhaltung von privaten Investoren führen. Daher sind klare Vorgaben und gesetzliche Rahmenbedingungen ebenso gefordert wie konkrete Anreizmechanismen.
Natürlich hängt das Schicksal der Wirtschaft des ehemals größten globalen Exporteurs2 auch stark von der Auslandsnachfrage ab, insbesondere aus China und den USA. Während die Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft bisher enttäuschend ausfiel, schüren jüngste Ankündigungen Pekings zu Konjunkturmaßnahmen die Hoffnung, dass sich das Wachstum wieder beschleunigen könnte. Die Bundesbank schätzte im Jahr 20183, dass jede Veränderung des chinesischen BIP um 1,0 Prozentpunkt eine Veränderung des deutschen BIP um gut 0,1 Prozent verursacht. Ökonomen warnen jedoch davor, dass der Effekt heutzutage geringer ausfallen könnte, da chinesische Unternehmen seither Schritte unternommen haben, um ihre Lieferketten zu lokalisieren. Trotzdem könnten positive Impulse aus China dazu beitragen, einen Teil der Belastung auszugleichen, die sich aus der erwarteten Wirtschaftsabkühlung in den USA ergibt.
Trotz der Schwäche der deutschen Wirtschaft hat sich der DAX im vergangenen Jahr gut entwickelt, stieg um mehr als 13 Prozent und erreichte am 28. Juli ein neues Allzeithoch. Der Anstieg wurde durch starke Hochstufungen der Unternehmensgewinne pro Aktie (Earnings Per Share, EPS) unterstützt: Seit Ende des vergangenen Jahres haben die Analysten im Konsensus ihre Schätzungen für 2023 und 2024 um 12 Prozent bzw. 10 Prozent angehoben. Der Konsens der Analysten geht derzeit immer noch davon aus, dass der DAX bis 2025 jedes Jahr ein schnelleres EPS-Wachstum als der breitere europäische Markt erzielen wird. Wir halten diese Schätzungen für sehr optimistisch. Zwar rechnen wir nicht mit einem vergleichbaren Absturz der Weltwirtschaft wie zu Pandemiezeiten, gehen jedoch davon aus, dass das Wachstum in den kommenden Jahren gedämpft bleiben wird. In diesem Umfeld dürfte es für deutsche Unternehmen schwierig sein, die Analystenerwartungen zu erfüllen. Im Fokus werden dabei die Sektoren stehen, die die größten Anteile an der Marktkapitalisierung des DAX haben, also Industriewerte (22 Prozent), Finanzwerte (17 Prozent) und Nicht-Basiskonsumgüter, zu denen vor allem Automobilhersteller gehören (15 Prozent).
Der DAX gilt nicht nur als zyklischer, sondern auch als besonders internationaler Index, weil seine Mitgliedsunternehmen insgesamt rund 80 Prozent ihres Umsatzes außerhalb Deutschlands erwirtschaften, vor allem in Europa (40 Prozent), Nordamerika (26 Prozent) und im asiatisch-pazifischen Raum (20 Prozent). Rund die Hälfte des Umsatzes im asiatisch-pazifischen Raum stammt allein aus China und hier vor allem aus den Sektoren Automobile und Materialien. Dies erklärt, warum der DAX empfindlich auf Veränderungen im CNY/EUR-Wechselkurs sowie auf chinesische Wachstumsdaten reagiert.
Insgesamt erscheinen die Bewertungen bei den meisten DAX-Kennzahlen durchaus attraktiv. Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV) und Dividendenrendite – alle anhand von Gewinnschätzungen auf Sicht von zwölf Monaten (Next Twelve Months, NTM) berechnet – liegen bei 11,1, 1,4 und 3,6 Prozent. Auch die relativen Bewertungen sind niedrig. Der DAX wird mit einem NTM-KGV-Abschlag von 14 Prozent gegenüber dem STOXX Europe 600 und einem Rekordwert von 45 Prozent zum S&P 500 gehandelt. Wir gehen daher davon aus, dass der DAX seinen Aufwärtstrend zunächst fortsetzen wird. Mittelfristig befürchten wir jedoch, dass die Konsensherabstufung des Gewinns je Aktie die Anlegerstimmung trüben könnte. Auch könnte der DAX darunter leiden, dass er wenige Unternehmen mit Bezug zu „künstlicher Intelligenz“, dem derzeitigen Börsenthema Nummer 1, enthält.
Die Binnennachfrage in Deutschland ist deutlichem Gegenwind ausgesetzt. Im Zuge sich verteuernder Finanzierungskosten ist die Nachfrage der Unternehmen nach langfristigen Krediten zuletzt deutlich zurückgegangen. Auf absehbare Zeit erwarten wir hier keine stärkere Entlastung. Die Verbesserung des Investitionsumfelds und die Stärkung der Binnennachfrage sollten daher auch durch wirtschafts- und fiskalpolitische Maßnahmen zur Bewältigung des Strukturwandels unterstützt werden.
Dabei ist der Spielraum für fiskalpolitische Unterstützung von strukturellen Reformmaßnahmen jedoch deutlich geringer geworden, nachdem in kurzer zeitlicher Abfolge aufgrund der Covid-Krise und des russischen Angriffs auf die Ukraine die Schuldenbremse vorübergehend außer Kraft gesetzt worden ist und die Haushaltsausgaben stark anstiegen. Für den Haushalt 2024 und die aktualisierte Finanzplanung bis 2027 haben die Koalitionspartner der Bundesregierung vereinbart, die Schuldenbremse wieder einhalten, die Verteidigungsausgaben auf hohen Niveaus halten und auf Steuererhöhung verzichten zu wollen. All dies begrenzt den Spielraum für umfassende Reformmaßnahmen. Zumal die unterschiedlichen Zielsetzungen der drei Koalitionspartner kaum Maßnahmen wie eine große Steuerreform zulassen dürften.4
Für den Bundeshaushalt 2024 hat sich die Regierungskoalition jedoch auf einige zentrale Vorhaben geeinigt5 – positive Ansätze sind also zu erkennen. Ein wichtiges Projekt aus wirtschaftspolitischer Sicht ist das „Gesetz zur Stärkung von Wachstumschancen, Investitionen und Innovation sowie Steuervereinfachung und Steuerfairness (Wachstumschancengesetz)“, das mit einem größeren Steuerentlastungspaket einhergeht. Neben Investitionsanreizen, Forschungsförderung und Abschreibungserleichterungen enthält es auch zahlreiche Vereinfachungen des Steuersystems, die eine breite Wirkung entfalten und von Bürokratie entlasten sollen. Ein weiteres Projekt ist das sogenannte „Zukunftsfinanzierungsgesetz“, das den deutschen Finanzstandort stärken und die Finanzierungsbedingungen für junge und wachstumsorientierte Unternehmen verbessern soll.
In der aktuellen Situation mit Strukturbrüchen und dem notwendigen Umbau der Wirtschaft in Bezug auf Energie, Klimawandel, Digitalisierung und neue Technologien kommt es darauf an, vor allem die kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) in Deutschland zu stützen. Denn große Unternehmen weisen eher eine Tendenz auf, an etablierten, erfolgreichen Produkten und Produktionsverfahren festzuhalten und Investitionen erst nach zeitlichem Vorlauf in großem Maßstab vorzunehmen. KMU hingegen reagieren auch auf kleinere Veränderungen der Marktbedingungen, arbeiten ständig an der Verbesserung ihrer Produkte und sind auf der Suche nach den besten Lösungen für die Probleme ihrer Kunden. Diese Flexibilität hat in der Vergangenheit dazu beigetragen, als Volkswirtschaft auch größere strukturelle Umbrüche zu bewältigen und sich an veränderte Marktbedingungen anzupassen. Aufgrund dieser Stärken des Mittelstandes kann man zuversichtlich sein, dass die deutsche Wirtschaft auch die aktuellen Strukturprobleme gut bewältigen wird. Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass politische Unsicherheiten so gering wie möglich gehalten werden. Durch klare Rahmenvorgaben kann den Unternehmen der Spielraum gegeben werden, ihre Kreativität und den Erfindergeist zu nutzen. Zudem müssen adäquate Infrastruktureinrichtungen zur Verfügung gestellt, die Planungs- und Genehmigungsprozesse vereinfacht, die Serviceorientierung der Bürokratie verbessert und nicht zuletzt die Anreize zur Teilnahme am Arbeitsmarkt erhöht werden.
1. IWF, World Economic Outlook, Update Juli 2023, abgerufen von: World Economic Outlook Update, July 2023: Near-Term Resilience, Persistent Challenges (imf.org)
2. Bundeszentrale für politische Bildung, abgerufen von: Deutschland: Entwicklung des Außenhandels | Globalisierung | bpb.de
3. Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Juli 2018, abgerufen von: Die Neuausrichtung der chinesischen Wirtschaft und ihre internationalen Folgen (bundesbank.de)
4. Budgetprognosen entsprechend der Maastricht-Definition, abgerufen von: OECD Economic Outlook, Volume 2023 Issue 1 | OECD iLibrary (oecd-ilibrary.org)
5. Regierungsentwurf, abgerufen von: Bundesfinanzministerium – Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2024 und Finanzplan bis 2027
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Redaktionsschluss: 26.09.2023