Was ist wirklich klimafreundlicher – den alten Diesel weiterzufahren oder ihn durch ein neues E-Auto zu ersetzen? Antwort gibt der „Produkt-CO2-Fußabdruck“: die Klimabilanz vom Rohstoff bis zur Entsorgung. Unternehmen unterschiedlichster Branchen arbeiten schon daran.
Altautoliebhaber wissen zwar, dass ihr Fahrzeug mehr CO2 beim Fahren ausstößt als ein E-Auto, aber dafür spare man die Emissionen der Herstellung eines Neuwagens, sind sie überzeugt. Und deshalb sei unterm Strich das Weiterfahren sogar umweltfreundlicher als der Neukauf eines elektrischen Autos. Doch stimmt diese Lebenszyklus-Betrachtung überhaupt? Angesichts knapp 25 Millionen „Gebrauchter“ mit einem Durchschnittsalter von mittlerweile zehn Jahren auf Deutschlands Straßen ist die Antwort nicht unerheblich. Das Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg hat nachgerechnet. Sein Befund ist eindeutig: Das neue E-Auto schneidet fast immer besser ab. Denn höchstens 15 Prozent der CO2-Emissionen eines Autolebens entfallen beim Verbrenner auf die Produktion. Schon nach etwas mehr als fünf Jahren mit durchschnittlicher Kilometerjahresleistung „spart“ das E-Auto gegenüber dem Alt-Verbrenner CO2 ein. Nur für den „Garagenwagen“-Fahrer mit wenigen Jahreskilometern lohne sich das Weiterfahren.
Verschiedene Institute haben sich an die Berechnung von „Product Carbon Footprints“ gemacht, auch Unternehmen unterschiedlichster Branchen versuchen sich an einer Produktgesamtbilanz. Das Ziel: Nicht nur das Unternehmen an sich soll möglichst CO2-neutral werden, sondern auch jedes einzelne Produkt. „Kunden wollen wissen, welche Umweltbelastungen das Produkt verursacht, das sie kaufen wollen“, sagt Lubomila Jordanova vom Berliner Plattformanbieter Plan A, der auf die Berechnung unternehmensweiter CO2-Abdrücke spezialisiert ist.
Die Regulatorik steuert ebenfalls in diese Richtung. Schließlich werden auch die Klimabelastungen entlang der Lieferkette den Herstellern zugerechnet. Die Emissionen entlang des gesamten Lebenszyklus zu kennen hilft den Unternehmen, Einsparpotenzial aufzudecken: Nur wenn sie wissen, an welcher Stelle wie viel CO2 entsteht, können sie zum Beispiel Rohstoffe oder Lieferanten substituieren.
Die Berechnung auf Produktebene ist noch aufwendiger, weil weniger Generalisierungen und Annahmen zulässig sind. „Unternehmen sollten mit einer CO2-Fußabdruckberechnung auf Unternehmensebene starten und erst im zweiten Schritt an den Product Carbon Footprint gehen“, rät Jordanova. Wie hoch die CO2-Emissionen einer Produktionshallenheizung sind, ist relativ einfach zu berechnen. Doch welcher Anteil wird welchem Produkt zugerechnet, wenn unterschiedlichste Produkte in der Halle hergestellt werden? Hinzu kommt, dass etliche Faktoren nicht stabil sind: Der benutzte Strommix könnte je nach Wetterlage variieren, Lieferrouten ändern sich, Lieferanten wechseln ihre Bezugsquellen, Produktmengen schwanken. Helfen würden Realdaten. Doch an die zu kommen ist sehr aufwendig. Darum werden häufig industrielle Durchschnittswerte genutzt. BASF berechnet den Product Carbon Footprint derzeit auf Basis der Emissionen der eigenen Anlagen und „hochwertiger Durchschnittsdaten für zugekaufte Rohstoffe und zugekaufte Energie“, solange noch keine direkten Lieferantendaten verfügbar sind.
„Kunden wollen wissen, welche Umweltbelastungen das Produkt verursacht.“
Lubomila Jordanova, Plan A
Aber nicht alle Daten werden von den einschlägigen Standards anerkannt. Vor allem die ISO 14067 (Fokus auf Quantifizierung und Kommunikation von Treibhausgasemissionen in der Lebenszyklusanalyse) und der „Greenhouse Gas Protocol Product Standard“ enthalten die wichtigsten Vorgaben. Dazu gibt es alternative Standards wie die Spezifikation PAS 2050, die bereits 2008 vom Carbon Trust eingeführt und später überarbeitet wurde. Außerdem finden sich branchenspezifische Leitfäden, wie sie zum Beispiel der VDMA für den Maschinen- und Anlagenbau erstellt hat.
Eine Hauptschwierigkeit liegt im Datenaustausch mit den Lieferanten. In einigen Industrien sind 90 Prozent Wertschöpfung bei den Lieferanten nicht selten. Mit einer Plattform namens Catena-X will die Automobilindustrie den Datenaustausch entlang der gesamten Wertschöpfungskette standardisieren. Jeder, der seine Daten einstellt, kann dabei kontrollieren, wer welchen Zugriff darauf haben kann. Vor allem soll Catena-X den Wildwuchs unterschiedlichster Insellösungen stoppen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Manufacturing-X für produzierende Unternehmen. Beide Projekte folgen dem branchenübergreifenden Grundgedanken von Gaia-X, dem staatlich geförderten Ansatz einer europaweiten Dateninfrastruktur. Doch die Entwicklung von Gaia-X ist nach wie vor nicht abgeschlossen.
So behelfen sich viele Unternehmen weiterhin mit verschiedenen branchen- oder anwendungsspezifischen Tools und Softwarelösungen zur Berechnung des Produktfußabdrucks. Dazu gehört der Carbon Footprint Calculator FRED vom Industrieverband Massivumformung. Tset hilft, nachhaltige Produkte unter Berücksichtigung von Scope-3-Emissionen zu entwickeln. Auch Siemens bietet mit SiGREEN ein CO2-Managementtool für die gesamte Lieferkette an. GUTcert wiederum überprüft Carbon-Footprint-Berechnungstools sowie die dahinterstehenden Ermittlungsmethoden und Emissionsfaktoren auf Konformität mit Normen und Standards.
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Bislang messen Scope 1, 2 und 3 die CO2-Emissionen entlang der gesamten Lieferkette. Aber sie sagen wenig darüber aus, welche Emissionen mit einem bestimmten Produkt vermieden worden sind. Darauf zielt der Begriff „Scope 4“ ab. Die Angabe, was vermieden wird, könnte bei der Vermarktung von ganz unterschiedlichen Produkten wie Kraftstoff sparenden Reifen, Niedrigtemperaturwaschmitteln oder energieeffizienten Kugellagern helfen.
Allerdings fehlt es an anerkannten Standards, wie die vermiedenen Emissionen gemessen werden sollen. Bislang gibt es nur Referenzmaterialien mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen. Auch ist nicht absehbar, dass Scope-4-Emissionen verpflichtender Teil der Nachhaltigkeitsberichterstattung werden oder mit den Scope-1- bis Scope-3-Emissionen gegengerechnet werden können. Unternehmen sollten sich daher zuerst auf eine solide Berechnung der Scope-1- bis Scope-3-Emissionen konzentrieren, betonen auch Fürsprecher des Scope-4-Ansatzes.
Ein weiterer Komplexitätsfaktor: Wird nur der CO2-Fußabdruck vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt („Cradle to Gate“) eingerechnet, oder werden auch Transport, Gebrauch und Entsorgung einbezogen („Cradle to Grave“)? Plan-A-Chefin Jordanova sagt: „Die umfassendste Berechnung wäre ‚Cradle to Cradle‘, bei der dann auch die Aufbereitung oder Verwertung zu Rohstoffen berücksichtigt wäre – denn das ist das Ziel einer Kreislaufwirtschaft.“
So aufwendig die Datenarbeit ist, es gibt bereits Unternehmen wie Frosta oder Volkswagen, die für ausgesuchte Produkte und auf 100 Gramm genau den CO2-Fußabdruck ausweisen können. Wollen Unternehmen ihre Emissionen deutlich reduzieren, kommen sie um eine Berechnung auf Einzelproduktebene dauerhaft nicht herum – denn dort werden die größten Einsparpotenziale sichtbar.
08/2024
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.