Neues Ungemach für die Lieferketten: Die Menschen fehlen, vor allem Lkw-Fahrer. Aber auch in anderen Bereichen der Logistikbranche sind Fachkräfte rar. Wie schlimm ist es, wie schlimm wird es?
Als in Großbritannien Lkw-Fahrer fehlten und sich lange Lieferstaus bildeten, war der Brexit als Schuldiger schnell ausgemacht: Unattraktive Arbeitsbedingungen treffen auf Arbeitskräfteabwanderung. Doch schon damals mahnten Logistikexperten, dass auch die EU bald ähnliche Probleme erleben würde. Und tatsächlich sind sie bereits in vielen Bereichen zu spüren. Dass manches Supermarktfach länger leer bleibt, liegt nicht allein an Corona-Lockdowns in Asien oder Containermangel auf hoher See – sondern auch am Fahrermangel in Mitteleuropa. Güter, die in Rotterdam oder Hamburg angelandet werden, kommen nicht so schnell wie geplant zu ihren Empfängern.
Dabei klingen die Zahlen, die die europäischen Häfen im Sommer meldeten, erst einmal nicht dramatisch: In Rotterdam ist die Lagerfläche zu 85 Prozent belegt, der Hamburger Burchardkai meldet 83 Prozent, in Antwerpen sind es 80 Prozent. Doch in der Vergangenheit waren durchschnittliche Belegungsquoten von 60 Prozent typisch. Weniger Platz bedeutet mehr Aufwand, Container zu sortieren, und längere Wege, sie zwischenzulagern. Dadurch wiederum können sich die Warte- und Aufladezeiten für die Lkw-Fahrer verlängern.
In den USA haben sich die Probleme in den Häfen schon 2021 deutlich gezeigt. Die Regierung steuerte gegen und erlaubte die pausenlose Entladung von Containern in wichtigen Ostküstenhäfen. Außerdem gab es Ausnahmegenehmigungen dafür, Container höher zu stapeln und somit Platz einzusparen. Dennoch lösten sich die Staus in den Häfen nicht rasch auf. Vor allem die Lkw-Fahrer wurden als Ursache ausgemacht.
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Dabei ist es nicht einfach, den „Schuldigen“ zu identifizieren. Denn in den seriellen Abläufen kann schon eine kleine Verzögerung am Beginn zu weiteren, viel größeren Verzögerungen im Prozess führen, weil die eng getakteten Pläne nicht eingehalten werden können. Das Problem ist längst nicht auf die Häfen beschränkt. Es fehlt an Rast- und Ladeplätzen. Außerdem werden, wie im Pkw-Bereich, Neufahrzeuge erst verzögert ausgeliefert.
„In vielen Bereichen wird es absehbar keine Alternative zur Straße geben.“
Eric Heymann, Deutsche Bank Research
Welche Bedeutung hat dabei der Faktor Mensch? Um mehr Transparenz zu erhalten, haben sich Anfang dieses Jahres mehrere Berater und Akteure der Logistikbranche für eine gemeinsame Studie „Begegnung von Kapazitätsengpässen in der Logistik“ zusammengeschlossen. Die endgültigen Ergebnisse werden erst zum Jahresende 2022 veröffentlicht, aber schon jetzt gibt es erste Zahlen. Demnach fehlten 2021 allein in Deutschland 40 000 Lkw-Fahrer, und jedes Jahr wächst das Delta um 20 000 weitere Leerstellen – das wäre jeder zehnte Fahrer. Der Bundesverband Güterverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) kommt auf ähnliche Zahlen: Jährlich gingen 35 000 Fahrer in den Ruhestand, aber nur 20 000 kämen nach – ein Delta von 15 000 Fahrern. Die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf, überlastete Rastplätze, Kriminalität auf den Parkplätzen und geringe Karriereperspektiven machen es der Branche schwer, Nachwuchs zu gewinnen.
Aktuell, schätzen die Autoren der Gemeinschaftsstudie, dürften in Deutschland rund 60 000 Stellen unbesetzt sein. Das entspricht etwa einem Zehntel aller Stellen. Verkehrsexperte Eric Heymann von Deutsche Bank Research sieht mehrere Gründe dafür: „Das Problem besteht schon lange, wurde aber gerade im Langstreckenverkehr mit osteuropäischen Arbeitskräften überbrückt. Doch auch in Osteuropa zeigt sich der demografische Wandel, für viele Junge ist die schwierige Vereinbarkeit von Beruf und Familie unattraktiv.“ Dabei hat auch die Logistikbranche von den Schwierigkeiten der Gastronomie während der Corona-Lockdowns profitiert: Viele Arbeitnehmer aus der Gastronomie sind in die Logistik gewechselt – doch sind sie vor allem Lagerarbeiter oder Fahrer von Kleintransportern für die Paketzustelldienste geworden.
Die Branche versucht gegenzusteuern. Auch mit Geld: In den kommenden zwei Jahren steigen die Löhne in der Branche um zusammen mehr als 10 Prozent. Billigeinstiegsstufen wurden abgeschafft, die Vergütungen für Auszubildende um 30 Prozent aufgestockt, die Jahressonderzahlung steigt ebenfalls um 10 Prozent in zwei Jahren. Damit gehen die Arbeitgeber auf ein Problemfeld ein, das in einer aktuellen Umfrage des Branchenverbands BGL unter Fahrern als eines der drei größten bezeichnet wurde: das niedrige Lohnniveau.
Gehaltserhöhungen haben aber den Nachteil, dass sie zusätzlich zu den erhöhten Energiekosten den Preis für Logistikleistungen weiter steigern. Das könnte, wie infolge der Coronapandemie bereits geschehen, zu einer weiteren Konzentration in der Transportlogistik führen. Viele Unternehmen haben die Zahl ihrer Spediteure gekürzt, weil sie Skaleneffekte nutzen wollten, und auf günstige Anbieter gesetzt – um dann zu erleben, dass diese Einsparmaßnahme die Lieferkettenausfälle häufig verschärfte.
Weitere Mittel, um den Lkw-Fahrer-Mangel zu mindern, sind die EU-weite Anerkennung von ukrainischen Lkw-Führerscheinen und die Verlegung von Gütern auf die Schiene. Außerdem werden neue (Zwischen)lagerkapazitäten aufgebaut, und bis 2030 sollen allein an der A 3 und der A 8 mindestens 500 neue Parkplätze entstehen. Das braucht Zeit. Eric Heymann von Deutsche Bank Research: „Auf der Schiene fehlen auch Kapazitäten, der Ausbau neuer Infrastruktur bei Schiene und Schiff wird Jahre benötigen und stößt lokal auf Widerstände. In vielen Bereichen wird es absehbar keine Alternative zur Straße geben.“
Zugleich wird mit unterschiedlichen Ansätzen an einer Automatisierung von Arbeitsschritten und an der Optimierung der Lieferrouten gearbeitet. Weil nicht nur Fahrer fehlen, sondern auch Personal für das Be- und Entladen an der Rampe rar ist, soll dieser Schritt vermehrt automatisiert werden. Sogenannte ATLS (Automatische Truck-Ladesysteme) gibt es bereits an einer Vielzahl von Rampen, doch sie sind bislang wenig standardisiert. Da Lkw an das jeweilige System angepasst werden müssen, wird ATLS vor allem beim internen Transport eines Unternehmens verwendet – beispielsweise um Knotenpunkte miteinander zu verbinden. Autonome Gabelstapler könnten die Automatisierung ohne ATLS-Installation ermöglichen. An der Rampe sind autonome Gabelstapler bislang eher selten, doch spezialisierte Unternehmen wie Gideon Brothers aus Kroatien versprechen mit ihren selbstfahrenden Staplern eine Zeitersparnis von mehr als 80 Prozent beim Entladen von Paletten. Das Start-up KATMA Cleancontrol verspricht eine voll automatisierte, zertifizierte Reinigung der Lkw-Anhänger, die bislang meist händisch per Hochdruckreiniger nach jeder Tour erfolgen muss.
20 000 Lkw-Fahrer
werden jedes Jahr zusätzlich in Deutschland fehlen
Eine fortschreitende Digitalisierung soll auch die weitere Optimierung der Fahrten ermöglichen. Leerfahrten werden so vermieden, und die Routenplanung berücksichtigt besser aktuelle Verkehrssituationen, die Kapazität der Lkw und die Maße der Waren. Das reduziert Energiekosten, und die Fahrer sind seltener überlastet, wenn sie Rastmöglichkeiten finden und nicht so lange im Stau stehen. Intelligente Systeme könnten außerdem den Personalstand und das Frachtaufkommen an Lade- und Entladepunkten wie Häfen oder Drehkreuzen berücksichtigen, um die Abfertigungszeit genauer zu berechnen. Denn bislang gibt es häufig Unsicherheiten, wann eine Ware wirklich zur Abholung bereitsteht, sodass Fernfahrer Zeit durch langes Warten verlieren und die Transportpläne durcheinandergeraten.
Lösungsansätze gibt es also zahlreiche. Doch der Anteil an Leerkilometern ist bereits auf 15 Prozent gesunken. Heymann: „Eine weitere Optimierung verlangt einen deutlich höheren Ausbau von Rechenkapazität und IT-Infrastruktur bei Containern, Transportfahrzeugen et cetera.“ Das Problem: Angesichts einer Vielzahl von IT-Programmen und Schnittstellen wird es dauern, bis die unterschiedlichen Systeme korrekt und in Echtzeit miteinander kommunizieren können.
Technologie kann auf der einen Seite die Fahrer entlasten, auf der anderen Seite steigen mit zunehmender Digitalisierung und Komplexität aber die Anforderungen an alle Beschäftigten im Logistiksektor. Die Technik im Fahrerhaus erleichtert vieles bei der Fahrt, doch erfordern die Einarbeitung in die Assistenz- und Logistiksysteme und danach die korrekte Bedienung eine höhere Qualifikation als früher. In der Logistikbranche selbst könnten diese Komplexität und die zunehmende Bedeutung der Supply Chain die Arbeitsplatzattraktivität und die Karriereperspektiven verbessern.
Technologie kann auf der einen Seite die Fahrer entlasten, auf der anderen Seite steigen mit zunehmender Digitalisierung und Komplexität aber die Anforderungen.
Das Anwerben insbesondere von Fernfahrern dürfte hingegen nicht einfacher werden. Vor allem solange sich das Image des Berufsbilds nicht grundlegend verbessert. Abhilfe soll der 2019 gegründete Verein PROFI („Pro Fahrer Image“) schaffen, doch die Außenwirkung ist bislang überschaubar. Der Fahrermangel dürfte sich in den kommenden Jahren verschärfen, bis ein Umschwung realistisch wird.
Der Mensch als schwächstes Glied der Lieferkette – das betrifft vor allem die Wohlstandsgesellschaften mit einer überalternden Bevölkerung. Aus der Vogelperspektive gibt es nur drei Möglichkeiten. Entweder verkürzen wir die Transportwege, indem wir Verzicht üben oder die Produktion näher heranholen – ein angesichts der geopolitischen Entwicklungen denkbares, aber wenig wünschenswertes, da wohlstandzehrendes Szenario. Oder wir werben Arbeitskräfte aus Ländern mit einem Überschuss an jungen Menschen an – eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft. Oder, Möglichkeit drei, wir vertrauen auf die technologische Innovation – und verlassen uns darauf, dass nicht nur autonome Gabelstapler das Leben an der Rampe erleichtern, sondern autonomes Fahren gleich die Lkw-Fahrer überflüssig macht. Keine der drei Möglichkeiten wird aber die aktuellen Probleme schnell lösen können.
11/2022
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.