Risiko ist Teil des Unternehmertums. Doch die Kombination von Pandemie, Digitalisierung, Klimawandel und sicherheitspolitischer „Zeitenwende“ birgt eine neue Qualität der Unsicherheit, auf die Unternehmer reagieren müssen. Nur, wie?
Das Schlagwort „VUCA“ wurde schon in den 1980er-Jahren geprägt. Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Mehrdeutigkeit: Das Ende des Ostblocks läutete eine neue Ära der Instabilität ein. Doch während das in erster Linie für die bislang nicht kapitalistische Welt galt, bedeutete die folgende Globalisierung im Westen vor allem neue Geschäftschancen. Das größte Risiko für deutsche Unternehmer lag lange darin, Chancen ungenutzt zu lassen. Die neuen Risiken Digitalisierung, Klimawandel, Pandemie gelten jedoch weltweit. Und war bislang schon allein das Risiko der digitalen Disruption – dass irgendwo auf der Welt ein Start-up das Geschäftsmodell eines eingeführten Unternehmens obsolet macht – Herausforderung genug, müssen Unternehmer nun an ganz unterschiedlichen Fronten Vorsorge betreiben, um nicht unterzugehen.
Klassische Risiken, zumal die außerhalb des direkten Einflussbereichs des Unternehmers, werden versichert: Wetter und schädlingsbedingte Missernten, Zahlungsausfälle durch insolvente Kundschaft, Lieferengpässe, Fehlverhalten angestellter Manager – für diese Risiken gibt es schon lange Versicherungslösungen. Sonstige unternehmerische Risiken wie erfolglose Produkte, unzureichend qualifizierte Mitarbeiter oder Preiserhöhungen bei Lieferanten konnten und mussten vom Unternehmer selbst angegangen werden – der Umgang mit diesen Risiken ist lange gelernt.
Wenn aber eine Pandemie weltweit zu Lockdowns führt, wenn sich durch die Klimakrise Naturkatastrophen häufen oder Kriege das Geschäft verhageln, so sind diese Risiken nur schwer individuell zu beeinflussen. Und sie werden zunehmen, so übereinstimmende Prognosen der einschlägigen Wissenschaftler. Aber die Versicherungswirtschaft wird seltener das Risiko absichern wollen, weil die Eintrittswahrscheinlichkeit von milliardenschwerer Haftung zu hoch wird. Lieferausfälle und der Verlust von Produktionskapazitäten werden eine Folge davon sein. Hilfe kann der Unternehmer in solchen Fällen meist nur vom Staat und seiner bislang schier unerschütterlichen Bonität erwarten. Doch auch diese könnte endlich sein – nicht heute, aber in einer weiteren, unerwarteten „Zeitenwende“.
Fatalismus ist unangebracht, Unternehmer können und sollten handeln. „Das hat niemand kommen sehen können“, hieß es zuletzt von Politikern immer wieder. Doch das ist nicht korrekt. Die meisten Disruptionen sind in Wirklichkeit nicht überraschend, Experten haben die Signale schon vorher erkannt und gewarnt. Ob die Modellierer in der Pandemie oder der Weltklimarat, ob einschlägige Start-up-Technologie-Datenbanken oder die Analyse von Staatsausgaben: Stets gab es Informationen und Warnungen im Voraus, die eine Vorbereitung erlaubt hätten.
Hätten wir auf die Warnung des Ökonomen Nouriel Roubini vor der Weltfinanzkrise 2008/09 gehört, wäre uns vieles erspart geblieben. Hätten wir auf seine zahlreichen unzutreffenden Warnungen vor weiteren, noch größeren Krisen in den Jahren danach gehört, wären uns viele Chancen entgangen.
Meist werden diese Warnungen allerdings so lange ausgeblendet, bis es zu spät ist. Das liegt nicht nur an der menschlichen Hoffnung, dass es „schon nicht so schlimm werden wird“, sondern auch an der Vielzahl unzutreffender Warnungen. Hätten wir auf die Warnung des Ökonomen Nouriel Roubini vor der Weltfinanzkrise 2008/09 gehört, wäre uns vieles erspart geblieben. Hätten wir auf seine zahlreichen unzutreffenden Warnungen vor weiteren, noch größeren Krisen in den Jahren danach gehört, wären uns viele Chancen entgangen. Auch für die Coronapandemie gilt: Längst nicht jedes Szenario ist eingetroffen, und das nicht nur wegen des Präventionsdilemmas. Für den Laien scheint es schier unmöglich, Alarmismus von fundierter Warnung zu unterscheiden.
Spannende Informationen und relevante Themen aus der Wirtschaft und Finanzwelt in kompakter Form für Ihren unternehmerischen Alltag und für Ihre strategischen Entscheidungen.
Wir machen Wirtschaftsthemen zu einem Erlebnis.
Doch das ist nur der bequeme Teil der Erklärung, warum Politik und Wirtschaft überwiegend so schlecht auf die Disruptionen der jüngeren Vergangenheit vorbereitet waren. Das sagt auch Stefan Bender, Leiter des deutschen Firmenkundengeschäfts der Deutschen Bank: „Viele Unternehmen sind erst dabei, ‚neue‘ Risiken in ihre Informationssysteme und Entscheidungsparameter zu integrieren.“ Während die Analyse klassischer Unwägbarkeiten wie Inflation, mögliche Gesetzänderungen oder Veränderungen des Kundenverhaltens im Unternehmen gelernt ist, bleiben neue Datenquellen meist außen vor. Noch immer wird der etablierte Konkurrent auf der Messe genau beäugt, doch der globale Start-up-Monitor fehlt. Das politische Risiko wird bei der Standortplanung einer neuen Produktion vielleicht noch berücksichtigt, Klimafolgeanalysen gehen hingegen selten in die Risikomodellierung von Unternehmen ein.
Allerdings findet ein Umdenken statt. So notiert das Umweltbundesamt Mitte 2021, dass bei einer Stichprobe von DAX-30-Unternehmen zumindest die „physischen“ Risiken des Klimawandels bereits vielfach berücksichtigt werden; allerdings wird die größere finanzielle Gefahr den sogenannten transitorischen Risiken wie CO2-Preiserhöhung oder Veränderung im Kundenverhalten zugeordnet. Und: Je nach Branche ist das Umweltrisikobewusstsein sehr unterschiedlich ausgeprägt – in einigen Bereichen wie der Touristik fehlt es fast vollständig.
„Viele Unternehmen sind erst dabei, ‚neue‘ Risiken in ihre Entscheidungsparameter zu integrieren.“
Stefan Bender, Deutsche Bank
Mit mehr Daten und Wissen ließen sich zumindest Szenarien vorab durchspielen. Allerdings wird das schnell sehr komplex. Zugleich vervielfachen sich zwar die Risiken, deren Eintrittswahrscheinlichkeit bleibt jedoch gering. Eine Ahrtal-Flut bleibt ein Jahrhundertereignis, und der Großteil aller Start-ups wird gescheitert sein, bevor sie eine relevante Marktposition erreicht haben. Welche Konsequenzen sollte ein Unternehmen also aus diesem Wissen ziehen, damit der Präventionsaufwand im richtigen Verhältnis zu Eintrittswahrscheinlichkeit und möglicher Schadenshöhe steht? Ein Mittelständler hat nicht die Kapazitäten, drei Werke parallel zu betreiben oder auch nur ein weites Lieferantennetz zu unterhalten, nur um gegen Ausfälle durch Naturkatastrophen gerüstet zu sein.
Dennoch ist der Gedanke nicht falsch – und lässt sich zumindest in Ansätzen auch im Mittelstand realisieren. Denn der Schlüssel zum Schutz vor den Kosten künftiger, heute bereits zu erwartender oder eben noch nicht abzusehender Disruptionen liegt in der Organisationsstruktur. Die aktuellen Großrisiken – das haben die vergangenen Jahre gezeigt – ließen sich in der Regel mit dezentralen, relativ autonomen Entscheidungs- und Produktionsstrukturen besser managen. Verspricht die Zentralstruktur größtmögliche Effizienz, weil dort Entscheidungen gebündelt und Wissen feiner ausdifferenziert werden können, so ist der mögliche Schaden deutlich größer als bei der dezentralen Organisation. Als Reaktion auf die VUCA-Herausforderungen wurden darum schon in vielen Unternehmen genau solche Strukturen unter dem Stichwort agiles Arbeiten entwickelt; die Digitalisierung erleichtert die Zusammenarbeit deutlich, auch dezentral.
Es bleibt aber aufwendig. Produkte müssen anders, nämlich modularer gedacht werden, um die Abhängigkeit von Einzelteilen und monopolistischen Zulieferern zu verringern. Information muss im Netzwerk geteilt werden, Zusammenarbeit problemlos überregional stattfinden können. Solche dezentralen, flexiblen Strukturen haben ihren Preis: Skaleneffekte gehen verloren, der Koordinationsaufwand steigt, Doppelfunktionen entstehen. Das ist der Preis der Prävention; eine vollständige Absicherung bietet eine flexible dezentrale Organisation nicht – aber sie kann das Schadenspotenzial erheblich senken. Und das kann den Unterschied ausmachen zwischen schwer getroffen und untergegangen.
08/2022
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.