Die Wahrheit über den Mindestlohn

Vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 war die Sorge vor negativen Effekten groß. Doch Pleiten und Entlassungen blieben zumindest bislang aus. Stattdessen gibt es einige überraschende Erkenntnisse.

Auch die Gebäudereinigung hat einen Mindestlohn – der aber deutlich über dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn liegt.

Auch die Gebäudereinigung hat einen Mindestlohn – der aber deutlich über dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn liegt. Foto: picture alliance / ZB / Sebastian Kahnert

Abwanderung von Arbeitsplätzen, Zunahme der Arbeitslosigkeit, Schwierigkeiten beim Einstieg in den Arbeitsmarkt, Preisanstieg beispielsweise im Taxigewerbe – lang war die Liste der Gegenargumente vor der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland. Doch es kam ganz anders. In den Folgejahren sank die Arbeitslosigkeit weiter, die Jugendarbeitslosigkeit ist so niedrig wie in kaum einem anderen Land Europas, und auch die befürchtete Welle von Unternehmensaufgaben blieb aus. Stattdessen, das zeigen Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), nahm die Entlohnungszufriedenheit von Geringverdienern zu.

Jobrückgang durch Mindestlohn war bislang nur kurzfristig

Dennoch gab es auch Nachteile: Die Unternehmensgewinne sanken aufgrund der höheren Lohnkosten, die Unternehmen reagierten mit einem kurzzeitigen Zurückfahren ihrer Investitionen. Und tatsächlich: 2015, nach Einführung des Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro, nahmen im ersten halben Jahr die Entlassungen zu und die Neueinstellungen lagen deutlich unter den Werten des Vorjahres. Allerdings währte auch dieser Effekt nicht lange, schon in der zweiten Jahreshälfte 2015 erreichten die Neueinstellungen wieder das 2014er-Niveau und überschritten es teilweise sogar.

Mindestlohn – lange unter Tariflohnentwicklung, jetzt nicht mehr

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„Ein jahrelang relativ niedriger Mindestlohn und eine gute konjunkturelle Entwicklung haben dafür gesorgt, dass die von einigen befürchteten Negativfolgen so nicht eingetreten sind“, erläutert Marc Schattenberg von Deutsche Bank Research. Allerdings habe die deutliche außerordentliche Anhebung auf zwölf Euro zum 1. Oktober 2022 und inzwischen auch darüber zu einer Entkoppelung vom Tarifindex geführt, an dem sich die Mindestlohnkommission eigentlich orientieren soll. Das heißt, dass damit der Mindestlohn seit der Einführung 2015 stärker gestiegen ist als die statistisch erfasste Entwicklung der Tariflöhne und Gehälter im selben Zeitraum. Bislang zeigte zwar auch diese Erhöhung wenig Nachteile, „doch die Nagelprobe dürfte noch ausstehen“, betont Schattenberg. „In einer anhaltenden Stagnation oder vielleicht sogar Rezession wird sich zeigen, ob der Mindestlohn nicht doch zu negativen Arbeitsmarkteffekten führt.“

Was Sie sonst noch über den Mindestlohn wissen sollten: fünf überraschende Erkenntnisse

1 Gesünder dank Mindestlohn

Bereits 2016 zeigte eine Studie, dass der 1999 in Großbritannien eingeführte Mindestlohn nicht – wie Kritiker befürchtet hatten – zu einem Mehrkonsum ungesunder Suchtmittel wie Tabak geführt hatte. Im Gegenteil, der Tabakkonsum war sogar gesunken. Das mag auch daran liegen, dass sich die psychische Gesundheit der Mindestlohnempfänger insgesamt verbessert hat. Ängste und Depressionen nahmen ab.

2 Tipflation bei sehr geringem Mindestlohn

Auch in den USA gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Auf Bundesebene sind 7,25 US-Dollar vorgeschrieben, in einigen Bundesstaaten liegt er deutlich darüber. Die Regelung gilt allerdings nicht für Tätigkeiten mit Trinkgeld, dort sind lediglich 2,13 US-Dollar Mindestsalär fällig. Insbesondere in der Gastronomie und Touristik sind „Tips“ etabliert, weil jeder um die Minimallöhne der Angestellten weiß. Doch seit der Coronapandemie gibt es eine wahre „Tipflation“ – einen sprunghaften Anstieg der „freiwilligen“ Trinkgeldhöhe. Bis zu 30 Prozent Aufschlag auf die eigentliche Gesamtsumme sind nicht ungewöhnlich. Bargeldloses Zahlen, wie es seit der Pandemie üblich geworden ist, und entsprechend komfortable Tastenvoreinstellungen haben den Anstieg befeuert. Allerdings regt sich zunehmend Widerstand gegen die Trinkgelderwartungen.

3 Deutlich höhere Steigerungen

In Deutschland ist der gesetzliche Mindestlohn bei 8,50 Euro gestartet, seit Jahresbeginn liegt er bei 12,41 Euro – eine Steigerung von 46 Prozent in nicht einmal zehn Jahren. Damit können durchschnittliche Tariflöhne nicht mithalten, obwohl der Mindestlohn sich am Tarifindex orientieren sollte. Das tat er auch bis zum Juli 2022, als er erstmals überproportional angehoben wurde. Mit einer weiteren Erhöhung während gestiegener Inflationsraten überholte der Mindestlohn den Tarifindex sogar sehr deutlich. Der preisbereinigte Vorsprung ist größer denn je.

4 Weniger Kompromissbereitschaft

In der ausführlichen Untersuchung des IAB zu den Folgen des Mindestlohns kam zum Vorschein, dass Unternehmen bei der Qualifikation von Mindestlohnkräften offenbar weniger kompromissbereit waren. Sie haben zumindest vor einer Neueinstellung intensiver und länger als zuvor gesucht und seltener Abweichungen von ihrem Suchprofil hingenommen. Allerdings war schon damals der statistische Effekt gering ausgeprägt. Inzwischen dürfte angesichts des aus Arbeitgebersicht schwierigen Arbeitsmarkts die Suchdauer weiter zugenommen haben, ohne dass daraus aber Rückschlüsse auf gestiegene Anforderungen gezogen werden können.

5 Geschätzte Leiharbeiter

Bei höher qualifizierten Tätigkeiten verdienen Zeitarbeiter inzwischen mehr als mancher Festangestellter – davon sind ungelernte Leiharbeiter noch weit entfernt. Dennoch haben sie zuletzt den größten Sprung im Branchenmindestlohn gemacht: plus 8,6 Prozent. Im allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn gab es zuletzt nur 3,4 Prozent Aufschlag. Noch im April 2022 hatte der Mindestlohn für ungelernte Hilfskräfte 10,88 Euro betragen. Inzwischen liegt er bei 13,50 Euro. Das ist zwar noch immer deutlich weniger als in anderen Branchen wie Elektro- oder Schornsteinfegerhandwerk, doch mehr, als ungelernte Beschäftigte im Maler- und Lackiererbereich oder in der Fleischwirtschaft verdienen.

07/2024
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.





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