Resilienz statt Effizienz: Zwei Drittel der Lieferkettenmanager wollen sich nach den Erschütterungen durch Handelskriege und Pandemie neue oder weitere Lieferanten suchen. Doch Resilienz hat ihren Preis. Wer ist bereit, ihn auch zu zahlen?
so teuer wie in China wäre die Produktion eines Turnschuhs in Italien
Wie stark die globalen Lieferketten erschüttert sind, ist noch gar nicht sichtbar. Die Lockdowns in vielen Ländern weltweit führten zwar zu Produktionsausfällen – doch weil die Nachfrage ebenfalls abrupt sank, fielen diese Ausfälle weniger ins Gewicht. So war mancher Abnehmer sogar ganz dankbar, dass er keine Waren geliefert bekam, die sowieso niemand gekauft hätte. Doch auch wenn sich die Nachfrage wieder normalisiert, wird das globale System der Lieferketten nicht das alte sein, darin sind sich viele Unternehmen und Berater einig.
Die Zahlen unterscheiden sich je nach Studie*, doch die Richtung ist deutlich: Eine Mehrheit der Supply Chain Manager weltweit denkt intensiv über Veränderungen in der eigenen Lieferkette nach. Mehr Lieferanten, andere Lieferanten – und diese möglichst nah, geografisch gesehen. Das verspricht nicht nur mehr Sicherheit gegen Pandemien oder andere Katastrophen, sondern schützt auch vor Strafzöllen und anderen Gefahren eines Handelskriegs. Drei R sollen helfen: Responsivität, Rekonfiguration und Resilienz. Schneller auf Unterbrechungen reagieren zu können durch ein Netz aus Lieferanten an unterschiedlichsten Standorten, um die eigene Produktion damit absichern zu können – das ist das Ziel.
„Es wird in den Unternehmen gerade viel darüber nachgedacht, wie die Zukunft der eigenen Lieferketten aussehen kann. Konkret entschieden wurde allerdings noch nichts. Das kann auch noch einige Jahre dauern“, beobachtet Amil Walia von der Deutschen Bank. Als Leiter Supply Chain Finance hat er nicht nur den deutschen Markt im Blick, sondern sieht auch die Entwicklungen in ganz Europa, im Nahen Osten und in Afrika. Die Diskussionen werden überall geführt. Konkret umgesetzt werden jedoch gerade ganz andere Maßnahmen.
„Weil durch die Corona-Krise viele Unternehmen insolvenzgefährdet sind, geht es Abnehmern momentan vor allem darum, die Solvenz ihres Lieferanten zu sichern – beispielsweise durch frühe Zahlungen“, sagt Walia. In vielen Bereichen sei es gar nicht möglich, kurzfristig den Lieferanten zu wechseln. „Das sind teils langjährige Beziehungen – man kennt die Qualität, die Zuverlässigkeit, die Spezifikationen. Das aufzugeben birgt auch ein großes Risiko.“
Darum haben selbst Großkonzerne in bestimmten, sehr anspruchsvollen Bereichen nur einen einzigen Zulieferer – weltweit. Dabei ist nicht unbedingt das Know-how des Lieferanten entscheidend, sondern sein Maschinenpark. Wird insgesamt nur eine geringe Stückzahl sehr anspruchsvoller Produkte hergestellt, sind die Fixkosten enorm. Gäbe es einen zweiten Lieferanten, würde sich die Abnahmemenge halbieren, die Kosten für die Maschine blieben aber identisch. Die Stückkosten würden sich – sehr vereinfacht gerechnet – schlagartig verdoppeln.
In anderen Bereichen ist eine Re-Regionalisierung gar nicht möglich, weil die benötigten Rohstoffe beispielsweise für Prozessoren oder Elektroantriebe nur in wenigen Regionen der Welt überhaupt abgebaut werden können.
Aber selbst bei relativ einfach herzustellenden Produkten wie Bekleidung kann die Produktion nicht einfach nach Mitteleuropa zurückgeholt werden. Einen Turnschuh in Italien herzustellen ist vier Mal so teuer wie in China. Auch wenn Robotik in vielen Bereichen helfen könnte, den Preisschock höherer Arbeitskosten abzumildern, wird es fast immer teurer, andere und mehr Lieferanten in die eigene Produktionskette einzubinden. Andere Ansätze wie eine größere Bevorratung binden Kapital und produzieren damit ebenfalls Mehraufwand. Wer soll diese Mehrkosten tragen?
„Diese Frage wird der Markt beantworten“, sagt Walia. In ausgesuchten Bereichen wie Pharma mag die Bereitschaft der Käufer, mehr für ein Produkt zu zahlen, durch Covid-19 gestiegen sein. Auch begehrte Technologien könnten preiselastisch sein. Für die Textilbranche dürfte das hingegen kaum gelten. Sollte die Wirtschaftskrise länger andauern, wird darunter der Konsum leiden. Eine Preiserhöhung wird dann schwer durchzusetzen sein.
Die Lösung könnte – zumindest aus Sicht deutscher Hersteller – in der europäischen Peripherie liegen. In den Fokus rücken darum Länder in Osteuropa, die nach dem Fall der Mauer schon einmal profitiert hatten: günstiger als Hochlohnstandorte wie Deutschland, näher als die günstigen Regionen in Ostasien. Und: angesichts der geplanten Haftung von Abnehmern bei Verstößen ihrer Lieferanten gegen Sozial- und Arbeitsstandards im Lieferkettengesetz auch weniger riskant.
Tschechien ist bereits größter ausländischer Lieferant der deutschen Autoindustrie, aber auch Portugal hat schon vor dem Corona-Ausbruch eine deutliche Nachfrage als Produktionsstandort erlebt. Polen und Rumänien buhlen verstärkt um Investoren: Polen kündigte Mitte Juni deutliche Steuererleichterungen an, Rumänien Anfang Juli staatliche Hilfen für Greenfield-Investitionen. Im Dunstkreis Europas hat Marokko bereits knapp 70 Autozulieferer als Standort überzeugen können, PSA (u.a. Peugeot) hat seine größte Produktion außerhalb Frankreichs und Chinas dort eröffnet. Den Ausschlag dürften nicht zuletzt Anreize wie kostenlose Grundstücke und Steuererleichterungen gegeben haben. All das könnte den Unternehmen helfen, die Kosten der Regionalisierung zu senken.
Die Near-Shoring-Tendenzen dürften sich nicht auf Europa beschränken. Weil China als Absatzmarkt inzwischen für viele Branchen beinahe ebenso wichtig ist wie als günstige Lieferquelle – oder in Zukunft werden könnte –, werden auch europäische Unternehmen in der Region bleiben. Es könnten sich allerdings regionale Lieferkettengeflechte „aus der Region für die Region“ in Ostasien etablieren. Statt eines globalen Netzes gäbe es verschiedene regionale Hubs. Ob deutsche Kunden dann aber bereit sind, mit einem entsprechenden Aufpreis das „europäische“ Produkt zu kaufen – oder das günstigere aus dem asiatischen Raum, wird abzuwarten sein. Denn warum sollten die bereits erprobten globalen Liefermöglichkeiten in Zukunft nur B2B-Kunden vorbehalten bleiben?
"Man kennt die Qualität, die Zuverlässigkeit, die Spezifikationen der bestehenden Lieferanten. Das aufzugeben birgt auch ein großes Risiko."
Anil Walia
Es kann auch anders kommen: Das bewährte internationale Netz an Lieferbeziehungen könnte größtenteils unverändert weiterbestehen. Allerdings würden Frühwarnindikatoren und eine bessere Transparenz über die gesamte Lieferkette bis zum Endabnehmer schnellere Reaktionen zulassen. Nicht in allen Branchen, aber zumindest in weniger sensiblen Bereichen wäre dies eine Möglichkeit, die schlimmsten Auswirkungen abzumildern. Die digitalen Möglichkeiten dazu bestehen längst. Sie müssten nur konsequent umgesetzt werden, vor allem die unterschiedlichen Schnittstellen müssen miteinander verbunden werden. Heute weiß längst nicht jeder Abnehmer, wer der Lieferant seines Lieferanten ist. Umso überraschender kommt dann der Lieferausfall. Weiß der deutsche Hersteller hingegen, dass sein tschechischer Lieferant von Lieferungen aus Nicaragua abhängig ist, kann er frühzeitig auf eine Naturkatastrophe dort reagieren. Wenn er nicht nur die eigenen Lagerbestände kennt, sondern auch weiß, wo sich Vorprodukte befinden und wie gut die Lager des Lieferanten gefüllt sind, weiß er besser, wie lange er seine Kunden noch beliefern kann. Die Umsetzung wird nicht einfach sein, aber in vielen Fällen günstiger als eine Standortverlagerung. Das Ende der Globalisierung sollte nicht zu früh ausgerufen werden.
8/2020
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.