Im Mai 2021 hat die EU-Kommission eine neue Industriestrategie präsentiert. Wettbewerbsfähiger, autonomer und widerstandsfähiger soll der Sektor werden. Was die neue Marschrichtung taugt.
Nicht nur in der Europäischen Union, sondern weltweit hat sich in den vergangenen Jahren eine intensive Diskussion um eine Neuausrichtung der Industriepolitik entwickelt. Seit den 1980er-Jahren war diese bestimmt von der Etablierung guter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, flankiert von einem Liberalisierungsprozess – sowohl innerhalb der jeweiligen Länder als auch auf globaler Ebene.
Doch dieser Prozess kehrt sich gerade um. Alte Gewissheiten in der Weltwirtschaft werden infrage gestellt. Je mehr globale Arbeitsteilung, desto besser? Das ist riskant angesichts von Pandemien und verletzlicher Handelsrouten wie dem Suezkanal. Ein Staat, der sich aus dem Markt weitestgehend heraushalten und Unternehmer machen lassen sollte? Das ist zu wenig, wenn Länder wie China ihre Industrien hochpäppeln und wirtschaftliche Abhängigkeiten als Druckmittel einsetzen. Der Abbau von Handelsbarrieren? Blauäugig, wenn selbst Freihandelsverfechter wie die Vereinigten Staaten plötzlich auf eine „America first“-Politik umschwenken.
Mit einer neuen Strategie versucht die EU, ihre industriepolitischen Ambitionen an die neuen Gegebenheiten anzupassen, um gegenüber den Wirtschaftsblöcken USA und China nicht an Bedeutung zu verlieren. Im Kern geht es darum, die Industrie, die für rund 20 Prozent der Wertschöpfung des gemeinsamen Binnenmarktes steht, nachhaltiger, wettbewerbsfähiger und resilienter zu machen – eingebettet in die Langfristziele, den digitalen und ökologischen Übergang der Wirtschaft voranzutreiben. „Die industrielle Souveränität und die globale Wettbewerbsfähigkeit Europas sicherzustellen ist angesichts der wirtschaftlichen und geopolitischen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte von entscheidender Bedeutung“, sagt Barbara Böttcher, Europa-Expertin bei Deutsche Bank Research.
Doch was heißt das im Detail? Die im Mai dieses Jahres vorgelegte EU-Industriestrategie adressiert drei Schlüsselprioritäten. Erstens: die Krisenfestigkeit des Binnenmarktes zu stärken, die durch Angebotsbeschränkungen, Grenzschließungen und Fragmentierungen im Zuge der Corona-Pandemie auf eine harte Probe gestellt wurde. Die Krise hat deutlich gezeigt, dass der freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital unbedingt aufrechterhalten werden muss, bietet er den europäischen Unternehmen doch Sicherheit und Wachstumsmöglichkeiten. Zweitens: die strategische Autonomie Europas fördern. Und Drittens: den grünen und digitalen Übergang der Wirtschaft beschleunigen.
Krisenfestigkeit des Binnenmarktes stärken
Um in Krisenfällen künftig besser gerüstet zu sein, will Brüssel die Resilienz des Binnenmarktes mithilfe eines Notfallinstruments stärken, das den freien Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr im Krisenfall sicherstellt. Außerdem sollen die Dienstleistungsrichtlinie und die Marktüberwachung von Produkten besser umgesetzt werden.
Strategische Autonomie Europas fördern
Um Abhängigkeiten bei Rohstoffen, Batterien, pharmazeutischen Wirkstoffen, Wasserstoff und weiteren Technologien zu schwächen, will die Kommission internationale Lieferketten diversifizieren. In einer ersten Analyse hat die Brüsseler Behörde für 137 Produkte – in erster Linie Rohstoffe und pharmazeutische Wirkstoffe – problematische Abhängigkeiten identifiziert.
Darüber hinaus sollen von der EU geförderte Industrieallianzen in strategisch wichtigen Bereichen Innovationen und die Entwicklung von Arbeitsplätzen beschleunigen. Vorbild dafür ist die Batterieallianz. Eine Halbleiterallianz, um die Produktion der momentan chronisch knappen Chips anzukurbeln und den Anteil der EU an der globalen Produktion von 10 auf 20 Prozent zu erhöhen, und eine Wasserstoffallianz sollen folgen. Instrument der Wahl sind sogenannte Important Projects of Common European Interest, also „wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse“ – abgekürzt IPCEI. Bei solchen grenzüberschreitenden Initiativen von Staaten und Konzernen erlaubt die EU großzügige Subventionen.
Den grünen und digitalen Übergang der Wirtschaft beschleunigen
Durch die Corona-Pandemie ist die EU-Industrie bei der ökologischen und digitalen Transformation zurückgeworfen worden. Deshalb will Brüssel Unternehmen bei diesem Übergang stärker begleiten und einen kohärenten Rechtsrahmen schaffen, um die Klimaziele der EU zu erreichen.
Ob der Strategievorschlag genauso umgesetzt wird, hängt nun von den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten und vom Europaparlament ab. Sie entscheiden über die Annahme. Vonseiten der Bundesregierung muss Brüssel nicht mit Widerstand rechnen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier unterstützt das Ziel, die EU mit Industrieallianzen autonomer zu machen, seit Langem. Auch die deutsche Industrie goutierte den Kommissionsvorschlag. „Mehr Resilienz und mehr Unterstützung in der ökologischen und digitalen Transformation sind die richtigen Stellschrauben“, hieß es vom BDI, dem Spitzenverband der deutschen Industrieunternehmen.
Doch wie ist die neue Industriestrategie zu bewerten? Taugen die Ansätze der EU-Kommission? Wie viel Markt muss, wie viel Staat darf sein? Es ist richtig, dass sich die EU ein Stück weit vom marktliberalen Mantra verabschiedet und eine aktivere Industriepolitik betreibt als zuletzt. Und doch wandelt sie auf einem schmalen Grat. Die gezielte Förderung strategischer Sektoren mag da sinnvoll sein, wo Europas Industrie abgehängt ist und die Politik obendrein erpressbar wird. Das ist in einigen Bereichen, die in engem Zusammenhang mit den Zukunftstechnologien der Digitalisierung und der grünen Transformation stehen, durchaus der Fall. Aber links und rechts davon lauern die Abgründe des staatlichen Mikromanagements und der Subventionswettläufe.
Wie groß diese Gefahr ist, zeigt das aktuelle Beispiel Intel: 8 Milliarden Euro an Fördergeldern fordert der US-Chiphersteller als Bedingung für neue Fabriken in Deutschland. Schließlich, so das Argument, bekomme ein Halbleiterhersteller auch in Taiwan oder Südkorea 40 Prozent der Kosten vom Staat ersetzt.
"Die industrielle Souveränität und die globale Wettbewerbsfähigkeit Europas sicherzustellen, sind angesichts der wirtschaftlichen und geopolitischen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte von entscheidender Bedeutung."
Barbara Böttcher,
Deutsche Bank Research
Kritik muss sich auch das Kapitel zur strategischen Autonomie gefallen lassen. Abhängigkeiten zu verringern und Lieferketten zu diversifizieren ist nach den Erfahrungen der vergangenen Monate zwar das Gebot der Stunde. Doch sind diese Aufgaben in den meisten Fällen bei den Unternehmen am besten aufgehoben. Sie brauchen dafür keine Hilfe des Steuerzahlers. Nicht jede Abhängigkeit ist obendrein problematisch und muss abgestellt werden. Entscheidend ist, ob die EU eigene Druckmittel in der Hand hat – und als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt hat sie das. Doch viel zu selten wirft sie ihr ökonomisches Gewicht in die Waagschale, um europäischen Unternehmen Eintritt in ausländische Märkte zu verschaffen und für faire Wettbewerbsbedingungen zu streiten.
Deshalb ist die Stärkung des europäischen Binnenmarktes eine absolut notwendige Maßnahme. Sie ist zum Vorteil aller Mitgliedsstaaten und stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften besser als protektionistische Maßnahmen, die langfristig den Wohlstand bedrohen. In den vergangenen Jahren haben insbesondere die Hemmnisse im grenzüberschreitenden Handel bei Dienstleistungen zugenommen. Zudem kann Brüssel mehr dafür tun, den grenzüberschreitenden Handel von bürokratischen Belastungen zu befreien. „Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen vor Ort und eine selbstbewusste Politik, die europäische Interessen auf internationaler Ebene entschlossen vertritt“, fordert denn auch die Stiftung Familienunternehmen. Insofern ist der Fokus der EU-Industriestrategie auf den Binnenmarkt erfreulich. Doch leider findet sich dazu noch wenig Konkretes.
09/2021
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Autor: Andreas Knoch. Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.