Wir glauben, in eine besonders volatile Epoche abzugleiten. Das stimmt nicht – wir sind einfach nur verwöhnt.
Wir leben in unsicheren Zeiten – für diese Behauptung erntet man aktuell nicht viel Widerspruch. Weit verbreitet ist das Gefühl, dass es noch vor wenigen Jahrzehnten um unsere physische Sicherheit deutlich besser bestellt war als heute – auch wenn Statistiken das genaue Gegenteil belegen. Vielleicht verbirgt sich hinter dem Gefühl der Unsicherheit aber eher die Angst vor dem rascheren Wandel der Lebensumgebung, in der Erfahrung und Wissen schnell veralten.
Überhaupt ist Unsicherheit im Deutschen kein sehr präziser Begriff. Im Englischen finden wir gleich drei Ausdrücke, die zeigen, welch unterschiedliche Bedeutungen Unsicherheit haben kann: uncertainty („es könnte auch anders kommen“), insecurity („es könnte abwärts gehen“) und unsafety („es könnte ans Leben gehen“). Ob Ungewissheit, Krisenangst oder Lebensgefahr, die Unsicherheit ist Teil der Menschheitsgeschichte. Zwar brauchte sich ein Schmied in der Antike oder im Mittelalter nicht zu fragen, ob seine früh erworbenen Fähigkeiten ihm zum Ende des Arbeitslebens noch nützlich sein würden. Und auch sein Sohn, bei dem sich die Frage nach einem anderen Beruf in der Regel nicht einmal stellte, durfte ruhig darauf vertrauen, dass die Erfahrungen des Vaters auch für ihn wertvoll sein würden.
Doch die Ungewissheiten waren gewaltig. Würde sich jemand im Alter kümmern, wenn die eigenen Hände kein Einkommen mehr erlaubten und kein soziales Netz gespannt war? Die Lebensversicherung waren die eigenen Kinder, die man aber reichlich gebären und durchfüttern musste, um sich einigermaßen sicher zu fühlen: In Bayern erlebte jedes zweite Kind in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht das Ende der Pubertät, damit war die Kindersterblichkeit genauso hoch wie im alten Rom.
Und würden die Kunden morgen noch genügend Geld haben, um bei ihm einzukaufen, oder würde eine Missernte durch schlechtes Wetter andere Waren so verteuern, dass nichts übrig blieb? Würde der Fürst sich eine neue Abgabe ausdenken oder ihn oder seine Söhne für den Kriegsdienst rekrutieren? Oder würden marodierende Söldnerbanden bei ihm plündern oder er bei der Auslieferung eines Auftrags Räubern in die Hände fallen?
All das war ungewiss, so wie man überhaupt kaum Bescheid wusste, was um einen herum los war. Deshalb war immer mit bösen Überraschungen zu rechnen. Zudem konnten die Menschen sich vieles nicht erklären, daher versuchte man, die Götter zu besänftigen, und führte Unglück auf eigenes Fehlverhalten zurück. Nicht ohne Grund waren Mittelalter und frühe Neuzeit für viele nicht nur ein alltäglicher Existenzkampf, sondern auch eine Epoche der Endzeiterwartungen, die von einer grauenhafte Angst vor der Hölle geprägt war, wie sie in den Bildern von Hieronymus Bosch eindringlich überliefert wird.
All das haben wir überwunden. Die Entwicklung ausgefeilterer Technologien, die Kraft der unsichtbaren Hand des freien Markts und die Verleihung von politischer Macht auf Zeit in Verknüpfung mit Rechenschaft haben uns ermöglicht, viel Unsicherheit und Ungewissheit aus unserem Leben zu eliminieren. Zwar ist das grenzenlose Vertrauen des 19. Jahrhunderts in den Fortschritt durch Technik längst gewichen. Doch immer noch nehmen wir für selbstverständlich, was stets errungen (Wohlstand) oder verteidigt (Unversehrtheit) oder hingenommen (Gesundheit) werden musste. Zu merken, dass all das doch nicht selbstverständlich ist, erschreckt uns.
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Das US-Militär begriff das (vorübergehende) Ende des Ost-West-Konflikts nicht in erster Linie als Erleichterung, sondern als große Herausforderung.
Viele belegen bis heute die aktuellen Unsicherheiten mit dem Akronym VUCA: volatility (Volatilität), uncertainty (Ungewissheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Vieldeutigkeit). VUCA prägte in den vergangenen Jahrzehnten die ökonomische Diskussion, dabei stammt der Begriff aus der Sicherheitspolitik. Das United States Army War College beschrieb damit die unklare Gemengelage, die durch den Zusammenbruch des Kommunismus und den absehbaren Übergang von einer bipolaren in eine multilaterale Weltordnung entstand. Interessanterweise sah das US-Militär das (vorübergehende) Ende des Ost-West-Konflikts nicht in erster Linie als Erleichterung, sondern als große Herausforderung.
Ganz anders die breite Bevölkerung, allen voran die frisch vereinigten Deutschen: „Erstmals hat sich die Idee der Freiheit weit verbreitet und fast unbestritten durchgesetzt“, konstatierte der damalige Bundespräsident Roman Herzog im Herbst 1996. „Noch nie war die Demokratie als Regierungsform in weiten Teilen der Welt so eindeutig anerkannt. Und nie war wohl auch die Zustimmung dazu größer, dass die Marktwirtschaft die Wirtschaftsordnung ist, die die Energien und den Einfallsreichtum der Menschen am unmittelbarsten und deshalb am sichersten in Wohlstand verwandelt.“
Aus diesem schönen Traum sind wir jäh erwacht. Das ist nicht schlimm, wir sollten die Herausforderungen nicht als Katastrophe empfinden. Sondern als Rückkehr zu einer Normalität, mit der praktisch alle Generationen vor uns auch zurechtkommen mussten. Das ist nicht schön, aber lehrreich. Wir sprechen heute viel über Resilienz – aber längst bevor dieser Begriff geprägt wurde, war Resilienz eine schlichte Voraussetzung für Überlebensfähigkeit.
08/2024
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.