Wie stabil?

Lange galt: Demokratien sind verlässlichere Wirtschaftspartner als Autokratien. Doch der Brexit und die US-Handelspolitik unter Trump lassen plötzlich Investitionen in China berechenbarer erscheinen. Ist das nur ein Gefühl, oder lässt sich eine Stabilitätsverschiebung auch in den Daten ablesen?

Sturm auf das Kapitol im Januar 2021. Der Versuch von Donald Trumps Anhängern, die förmliche Bestätigung des Wahlsiegs von Joe Biden zu verhindern, scheitert. Doch wie stabil sind Demokratien noch?

Sturm auf das Kapitol im Januar 2021. Der Versuch von Donald Trumps Anhängern, die förmliche Bestätigung des Wahlsiegs von Joe Biden zu verhindern, scheitert. Doch wie stabil sind Demokratien noch? Foto: Picture-Alliance / Pacific Press / Lev Radin

Ob der Sturm auf den Sitz des US-Kongresses, der Brexit oder die Freund-Feind-Umkehr unter Donald Trump: Selbst die etabliertesten Demokratien der Welt scheinen vor Disruptionen nicht gefeit, von weniger gefestigten Strukturen wie dem riesigen Brasilien zu schweigen. Während man im Iran und in Russland die Unberechenbarkeit von Diktaturen und Autokratien vor Augen geführt bekommt, scheinen China und Singapur Horte der Stabilität zu sein.

Welches System ist nun stabiler, Demokratie oder Autokratie? Das ist nicht allein eine politikwissenschaftliche Frage, sondern entscheidend für Unternehmensstrategien: Wie steht es um meine Investitionssicherheit, meine Lieferketten, meine Absatzmärkte im Ausland? Eine Frage, die nicht zuletzt in Zeiten von Coronapandemie, Energieversorgungsunsicherheit und geopolitischen Spannungen an Bedeutung gewonnen hat.

Der Ökonom Mancur Olson schrieb vor 30 Jahren in seinem Aufsatz „Diktatur, Demokratie und Entwicklung“: „… die inhärente Ungewissheit der Nachfolge in Diktaturen führt dazu, dass Autokratien selten länger als eine Generation lang eine gute Wirtschaftsleistung aufweisen. Die Bedingungen, die für eine dauerhafte Demokratie notwendig sind, sind die gleichen, die für die Sicherheit von Eigentums- und Vertragsrechten notwendig sind, die Wirtschaftswachstum erzeugen.“

Nur, stimmt Olsons Befund von 1993 noch – angesichts gleich mehrfacher friktionsloser Generationswechsel in China, dem Iran oder Singapur? Die theoretischen Argumente für die Demokratie – Rechtsstaatlichkeit, Transparenz, Einbindung unterschiedlicher Interessen im Konsens, Offenheit für Wettbewerb und Innovation – sind schnell genannt. Doch so einfach ist es nicht mit der Systemüberlegenheit. Autokratien punkten mit Entscheidungsgeschwindigkeit, der Unabhängigkeit von relativ kurzen Wahlzyklen und mit Stabilität – selbst bei großer sozialer und politischer Fragmentierung – durch Kontrolle. Und dies, anders als von Olson angegeben, offenbar auch über Jahrzehnte.

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Was die Indikatoren sagen

Für Unternehmer sind Fragen wie „Wie groß ist das Risiko von Enteignungen?“, „Habe ich im Streitfall vor Gericht überhaupt eine Chance auf Gerechtigkeit?“ oder „Wie erratisch werden Handelsbeziehungen verändert?“, relevant für eine Entscheidung, die über eine simple Betrachtung von Wirtschaftswachstum oder Produktionskosten hinaus die Risiken im Blick hat.

Die Bedingungen, die für eine dauerhafte Demokratie notwendig sind, sind die gleichen, die für die Sicherheit von Eigentums- und Vertragsrechten notwendig sind, die Wirtschaftswachstum erzeugen. 

Mancur Olson, Ökonom

Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen bekannten und möglichen Risiken. Wer sich heute für ein Investment in Indien oder China entscheidet, kann sich über die bestehenden Risiken gut informieren. Es gibt eine Vielzahl internationaler Vergleichsindikatoren wie die Worldwide Governance Indicators unter anderem für Mitspracherechte und Verantwortlichkeit, Rechtsstaatlichkeit oder regulatorische Qualität; den Rule of Law Index des World Justice Project oder den Index of Economic Freedom. Dabei fällt zuerst auf, dass die sehr unterschiedlich hohen Indexwerte je Land weniger von der Regierungsform als vielmehr vom grundsätzlichen Entwicklungsstand abhängen. Konkret: Das autokratische Singapur hat ähnlich hohe Werte wie das demokratische Deutschland. Die größte Demokratie der Welt, Indien, liegt bei Eigentumsrechten nicht von fern der Volksrepublik China.

Wer in einen Markt investiert, kennt die Unsicherheiten – das sind die bekannten Risiken. Es überrascht niemanden, dass diese in Russland auf einem grundsätzlich anderen Niveau als in Großbritannien liegen. Relevanter sind daher die Veränderungen. Entwickeln sich Märkte zum Positiven, oder verschlechtern sich die Investitions- und Handelsbedingungen über die Jahre? Hier zeigt sich in China ein längerer Verbesserungstrend beispielsweise mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit. Mehreren Indikatoren zufolge haben sich aber auch der Brexit und die Trump-Jahre weniger deutlich ausgewirkt als erwartet wurde oder man aufgrund der Medien-berichte annehmen könnte.

Abrupte Kurswechsel

Am aussagekräftigsten ist ein Vergleich der Indexschwankungen von einem Jahr zum nächsten: Zeigen sich Brüche, insbesondere Verschlechterungen? Es gibt keine expliziten Daten, die wichtige Fragen wie „Kann ich im Krisenfall mein Geld abziehen?“ oder „Werden Zölle willkürlich verändert?“ beantworten. Annäherungsweise finden sich Antworten in den Unterkategorien der Rechtsstaats-Indizes oder auch des Fragile States Index der Organisation Fund for Peace. Der Index of Economic Freedom erlaubt mit dem Indikator „Trade Freedom“ Rückschlüsse auf die Handelsbedingungen und mit „Property Rights“ auf die Gewährung von Eigentumsrechten.

Die Analyse dieser Indikatoren im Vergleich über 20 Jahre fördert bei manchen Ländern Interessantes zutage. Im Fall der USA hat sich der Indikator für die Handelsfreiheit im letzten Trump-(Wahl-)Jahr 2020 deutlich verschlechtert. Auch die neuen Handelsregelungen mit der EU seit Anfang 2021 zeigen sich klar in den Daten. In China wiederum gab es zwar eine schleichende Verschlechterung der Handelsfreiheitswerte, aber keine starken Ausschläge. Anders in Russland: Dort brachen im Zuge der globalen Finanzkrise (und der Wirtschaftskrise in Russland) die Werte 2008 massiv ein. Auch im Iran gab es vereinzelt Ausschläge, die viel größer sind als die Reaktionen auf Trump 2020 und auf den Brexit 2021. Im Fall Indiens zeigten sich in den vergangenen 20 Jahren ebenfalls große Ausschläge in beide Richtungen.

Einen klaren Sieger der Systeme kennen die Indikatoren nicht.

Bei den Eigentumsrechten verzeichneten die Autokratien kurzfristig massive Einschränkungen. In China, Iran und Russland verschlechterte sich 2022 das Eigentumsrecht massiv; in etlichen Demokratien hingegen verbesserte es sich. Auch hier sind Indien und Singapur wieder Ausnahmen. Und in den USA gab es schon unter Barack Obama teilweise deutliche Verschlechterungen.

Langfristig überlegen

Einen klaren Sieger der Systeme kennen die Indikatoren nicht. Grundsätzlich zeigt die Analyse aber, dass Länder mit hohen Indikatorwerten zwar auch Schwankungen aufweisen, sie aber das insgesamt hohe Niveau nie verlassen. Es gibt keine radikalen „Farbwechsel“ in der Werteampel. Anders sieht das bei Staaten mit niedrigen Werten aus, bei denen es nach Aufwärtsbewegungen immer wieder zu Abstürzen kommen kann. Dabei fällt auf, dass die Volatilität im Handel deutlich weniger ausgeprägt ist als beispielsweise bei den Eigentumsrechten.

Noch auffälliger ist es, dass unter den vermögendsten Flächenstaaten der Welt fast nur Demokratien zu finden sind. Zumindest langfristig ist damit der Befund klar: Wer langfristig investieren und planen möchte, wird weiter Demokratien vertrauen, denn dort sind Investitionssicherheit und Zuverlässigkeit höher. Die wirtschaftliche Dynamik in Autokratien mag phasenweise höher sein, aber das Risiko eines Absturzes ist – das zeigen die Indizes – deutlich größer. Und da ist der heimische Druck durch Corporate Governance noch gar nicht erfasst: Unternehmen geraten immer früher unter Beschuss, weil sie in einem unliebsam gewordenen Land ihr Geld verdienen.

07/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.

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