Die Anwältin Bärbel Sachs und ihr Kollege Björn Paulsen von der Kanzlei Noerr beraten deutsche Unternehmen in Russland zu Sanktionsauflagen und Rückzugsmöglichkeiten. Im Interview schildern sie die praktischen Probleme des Rückzugs.
Rund 1.200 Unternehmen aus aller Welt, die in Russland aktiv sind – oder es bis zur Invasion in der Ukraine waren -, verzeichnet die „Yale Liste“ (Stand 30.05.2022). Dabei ist akribisch aufgeführt, welche Unternehmen sich bereits zurückgezogen haben (grün gefärbt), wer seine Aktivitäten zurückfährt (gelb), aber auch welche Firmen „Zeit kaufen“ (orange) oder sich „eingraben“ (rot). Während chinesische Unternehmen mit Ausnahme des Bankensektors überwiegend rot gefärbt sind, ist das Bild der deutschen Unternehmen deutlich grüner – allerdings mit rötlichen Farbtupfern. Die Unternehmen, die ihre Aktivitäten in Russland nicht zurückfahren, sehen sich öffentlichem Druck ausgesetzt. Im Mai erst veröffentlichte Deutschlands größtes Boulevard-Blatt einen Artikel mit der Überschrift „Diese Firmen machen immer noch Geschäfte mit Russland“. Doch nicht jedes Unternehmen, das sich bislang nicht aus Russland zurückziehen will, tut das aus freien Stücken. Denn Unternehmen, deren Produkte nicht den diversen Sanktionspaketen der EU unterliegen, riskieren Klagen von ihren Geschäftspartnern, sollten sie ihren Verpflichtungen nicht nachkommen.
Compliance-Expertin Bärbel Sachs und der Leiter des Russian Desks der Kanzlei, Björn Paulsen, beschreiben die aktuellen rechtlichen Schwierigkeiten und Herausforderungen deutscher Unternehmen bei ihren Russlandaktivitäten – und welche Lösungen es bislang gibt.
Bärbel Sachs: Die Unternehmen, die auch nach 2014 in Russland verblieben sind, haben ein umfassendes Compliance-Kontrollsystem aufgebaut. Das mussten sie mit Kriegsbeginn im Februar über Nacht komplett umstellen, weil der Umfang der Sanktionen deutlich gewachsen ist. Gleich zu Beginn gab es daher vor allem eine Frage: „Wie haben wir folgende Sanktionsregel auszulegen?“ Man merkt den zahlreichen Sanktions- und Compliance-Vorgaben durch die EU an, dass sie sehr kurzfristig entstanden sind. Manches neue Sanktionspaket wird erst am Freitagabend im Amtsblatt veröffentlicht, am Montag früh klingeln bei uns dann die Mandanten durch. Die haben sich gleich am Wochenende damit beschäftigt, aber vieles ist uneindeutig. Da gibt es oft Auslegungsschwierigkeiten, und auch wir haben nicht auf jede Frage gleich eine Antwort. Aber in der direkten Kommunikation mit Behörden lässt sich zum Glück vieles klären.
„Man merkt den zahlreichen Sanktions- und Compliance-Vorgaben durch die EU an, dass sie sehr kurzfristig entstanden sind.“
Dr. Bärbel Sachs, Noerr
Sachs: Bei einigen Mandanten war zum Beispiel das Problem, dass sie nicht schnell genug ihre LKWs mit Lieferungen gestoppt haben. Die wollten dann wissen, ob sie sich selbst anzeigen sollten, weil sie damit gegen die Sanktionen verstoßen haben.
Sachs: Natürlich muss man das jeweils im Einzelfall betrachten. Die strafrechtlichen Vorschriften räumen aber bei fahrlässigen Verstößen eine „Gnadenfrist“ von 48 Stunden ein. Die Behörden sehen dann von einer Strafverfolgung ab.
Björn Paulsen: Dieser Ansatz klingt sinnvoll, birgt aber Risiken. Ein Mandant wollte beispielsweise wissen, ob er überhaupt Zahlungen an einen russischen Mitarbeiter oder an russische Vertragspartner vornehmen darf, deren Konten bei einer russischen Bank geführt werden, die unter US-Sanktionen fällt. Würde er einfach auf diese Überweisung verzichten, obwohl sie sanktionsrechtlich zulässig ist, wird er vertragsbrüchig und macht sich zivilrechtlich angreifbar. Es gibt also nicht nur das Risiko durch Sanktionsverstöße, sondern auch mögliche Schadensersatzklagen russischer oder auch anderer Geschäftspartner, wenn sie ihre Verträge nicht erfüllen.
Paulsen: Ja, es gab tatsächlich schon manchen Brief der Staatsanwaltschaft an Geschäftsführer ausländischer Unternehmen, dass beispielsweise außerordentliche Kündigungen angeblich strafbar seien. Es stellt sich allerdings die Frage: Was sollen denn die Geschäftsführer vor Ort tun, wenn beispielsweise keine Ware mehr geliefert wird? Wir haben einen Mandanten aus den USA mit einem großen Werk in Russland, der könnte weiter nach Russland liefern. Doch sieben seiner zehn größten Kunden sind ausländische Unternehmen, die sich aus Russland zurückgezogen haben und seine Ware also nicht mehr benötigen. Da kann er noch so willens sein – sein Russlandgeschäft ist im Ergebnis erledigt. Und die Drohung mit der Enteignung: Was ist das russische Unternehmen in solch einer Situation noch wert? Ich glaube, solche Drohkulissen führen zu nicht viel, wenn sich die ausländischen Unternehmen aus Russland zurückziehen und mit entsprechenden Verlusten kalkulieren.
Paulsen: Die Mehrheit will aus Russland raus, die meisten ausländischen Geschäftsführer haben das Land bereits verlassen. Unterschiede gibt es nur in der Geschwindigkeit und Art des Rückzugs. Grundsätzlich gibt es drei Optionen: die ordnungsgemäße Liquidation, den Verkauf – in der Regel ans Management zu einem sehr geringen Kaufpreis – und die Insolvenz.
„Wir raten nur selten zur Insolvenz-Option, weil die Risiken die Kosten des reinen Beteiligungswertverlustes sogar übertreffen können.“
Björn Paulsen, Noerr
Paulsen: Bei der „solventen Liquidation“ müssen Sie kalkulieren, dass Sie für mindestens fünf Monate die Gehälter und für ca. zwölf Monate einige weitere Kosten weiterzahlen. Manches Unternehmen zahlt auch noch länger, um den Mitarbeitern etwas mehr Zeit zu geben, sich umzuorientieren. Dann ist das Unternehmen aber aufgelöst. Der Verkauf wird in den meisten Fällen – von einigen großen Unternehmen abgesehen – ans Management erfolgen. Man sollte hier nicht mit einem Erlös rechnen und sich auf eine vollständige Wertabschreibung einstellen. Es kann sogar sinnvoll sein, das Unternehmen noch mit einer gewissen Liquidität auszustatten, damit es bessere Chancen hat mittelfristig zu überleben. Viele ausländische Unternehmen möchten – auch als Zeichen der Loyalität zu ihrem lokalen Management – eine Call-Option vereinbaren. Dann zahlen sie zwar im Falle der Ausübung der Option wieder einen höheren Preis als sie selbst erzielt haben, sichern sich aber einen relativ schnellen Start für den Fall, dass sich die politische Landschaft in Russland zum Positiven ändert und die Sanktionen wieder aufgehoben werden. Verkauf ist von den schlechten Optionen meines Erachtens noch die beste. Eine Put-Option wird dem Management allerdings nicht gewährt, das wollen die Unternehmen nicht riskieren.
Paulsen: Die Insolvenz-Option haben wir vor allem bei US-Unternehmen als ernsthaft in Betracht gezogene Exit-Variante gesehen. Allerdings raten wir nur selten dazu, weil die Risiken die Kosten des reinen Beteiligungswertverlustes sogar übertreffen können. Denn wenn Sie eine Insolvenz verschulden, obwohl Sie ja eigentlich noch liefern könnten – und nicht durch Sanktionsregeln daran gehindert werden – kann es zu einer direkten Durchgriffshaftung kommen. Dann kann der Geschädigte zwar regelmäßig nicht auf Aktiva in Deutschland zugreifen, aber auf solche, die in anderen Ländern gelegen sind. Mancher russische Insolvenzverwalter sucht bereits nach solchen Möglichkeiten und prüft die Länder, in denen russische Gerichtsurteile vollstreckbar sind. Darum wäre ich damit eher vorsichtig.
Sachs: Jetzt stehen die Themen Öl und Gas auf der Agenda; da müssen wir sehen, wie schnell sich das wie umfangreich entwickeln wird. Ich glaube aber auch nicht unbedingt, dass es weitere Sanktionspakete darüber hinaus benötigt, weil Russland in den kommenden Monaten die Auswirkungen der Sanktionen sehr viel deutlicher spüren wird. Noch sind vielfach die Lager vor Ort gefüllt, in einigen Monaten wird es aber eben keine Produkte mehr geben, weil nichts nachgeliefert wird. Der Zahlungsverkehr ist zwar nicht gestoppt, aber sehr behäbig geworden. Auch die Restriktionen im Bereich der Logistik auf der Straße und in der Luft machen die Zusammenarbeit mit russischen Unternehmen sehr unattraktiv.
5/2022
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