Mit Inflation kann man die Deutschen prima erschrecken. Dabei könnte der Staat sich damit geruhsam entschulden – wenn nur die Gefahren für das Wachstum nicht wären. Für uns ein Schreckensszenario, doch die anderen großen Euroländer sehen die Geldentwertung viel gelassener als wir.
Unternehmen mögen keine Inflation. Sie erzeugt zusätzliche Unsicherheit in der Planung und ganz praktischen Aufwand. Aber Unternehmen kommen mit moderater Geldentwertung historisch betrachtet ziemlich gut zurecht: Erst ab Inflationsraten oberhalb von fünf Prozent erwirtschafteten Unternehmen laut einer Langzeitstudie von Credit Suisse und der London School of Economics (LSE) im Zeitraum von 1900 bis 2012 keine positive reale Rendite mehr. Noch besser schlagen sich nur Immobilienbesitzer – und natürlich Kreditnehmer.
Der Rest verliert, und auch wer ein Eigenheim sein Eigen nennt, wird an anderen Stellen getroffen. Darum wird unser Volk unruhig, sobald die Geldentwertung zu entgleiten droht, und die Politik gelobt pflichtschuldig – wenn auch oft vage – Besserung. So Ende November vergangenen Jahres der damalige Finanzminister und heutige Bundeskanzler Olaf Scholz: „Eine hohe Inflation, wie sie aktuell zu beobachten ist, sollten wir nicht anstreben. Da bin ich völlig festgelegt.“
„Eine hohe Inflation, wie sie aktuell zu beobachten ist, sollten wir nicht anstreben. Da bin ich völlig festgelegt.“
Olaf Scholz, Bundeskanzler
Anders kann die Politik auch nicht reagieren, ein hundert Jahre altes Trauma hat Deutschland immer noch fest im Griff. Nach der Aushändigung der Lohntüte sofort zum Bäcker, weil der Monatslohn am Abend vielleicht schon nicht mal mehr für ein Brot reicht: Diese plastische Erinnerung aus der Hyperinflation von 1922/23 ist zwar längst buchstäblich begraben. Auch an die Währungsreform von 1948, die eine durch Preiskontrollen aufgestaute Inflation sichtbar machte, kann sich heute fast niemand mehr erinnern. Damals wurden zwar laufende Zahlungen wie Gehälter oder Mieten eins zu eins von Reichsmark auf D-Mark umgestellt, doch die Zeche zahlten die Sparer mit einem Verlust von 93,5 Prozent. Das alles weiß kaum einer noch so genau, aber das kollektive Gedächtnis der Deutschen hat eine zentrale Botschaft behalten: Stabile Preise stehen über (fast) allem.
Das Mantra der Geldwertstabilität prägt die Haltung unserer Regierungen bis heute. Dabei ist Inflation für einen Staat erst mal gar nicht schlecht. Schließlich ist er mit Abstand der größte Schuldner und besitzt kaum Geldvermögen, dafür aber Immobilien und Unternehmensbeteiligungen – ein klassischer Fall von Inflationsgewinner, könnte man meinen. Anders sieht es nur aus, wenn ein Land sich – wie traditionell Argentinien – bei ausländischen Gläubigern in Fremdwährung verschuldet und die Inflation den Außenwert ruiniert. Deutschland hat aber fast nur Schulden in Euro.
Außerdem ist die Regierung für die Bekämpfung der Inflation eigentlich gar nicht zuständig, das ist Aufgabe der Zentralbank. Doch die aktuelle Gemengelage von starken Preissteigerungen und Rezessionsängsten stürzt die EZB in ein Dilemma. Denn diese Inflation ist nicht das Ergebnis eines Booms, sondern spiegelt partielle Versorgungsengpässe, hohe Transport- und Energiekosten, einen angespannten Arbeitsmarkt und eine generell hohe Liquidität wider. Starke Zinssteigerungen sind da nicht angebracht. Darum ist das Szenario nicht unwahrscheinlich, dass wir in den kommenden Jahren niedrige Zinsen und relativ hohe Inflationsraten erleben.
Das sollte eigentlich die Finanzminister jubilieren lassen, denn dadurch bleibt die Neuverschuldung günstig, während die Einnahmen steigen. Und auch manch ein Ökonom könnte aufatmen, war doch „aus den Schulden rausinflationieren“ der letzte Weg, der vielen als Ausweg aus dem durch Finanzkrise, Staatsschuldenkrise und Pandemie aufgehäuften Euroland-Schuldenberg noch eingefallen war.
Doch so einfach ist das nicht. „Eine hohe Inflation zieht letztlich auch immer einen Verteilungskampf nach sich“, sagt Sebastian Becker von Deutsche Bank Research. „Getroffen werden vor allem die Schwächeren, das ist eine Herausforderung für den Staat.“ Politisch, aber auch finanziell: „Die Sozialtransfers steigen in Inflationszeiten“, sagt Becker.
Für noch problematischer hält der Volkswirt aber die Gefahr, dass Inflation das Wachstum schwächt. „Sollte es in Deutschland zu einer unkontrollierbaren Lohn-Preis-Spirale kommen, wäre das eine echte Bedrohung für die Wirtschaft.“ Neben den Löhnen sind auch die hohen Kosten für die Digitalisierung und den nachhaltigen Umbau der Volkswirtschaft Preistreiber. Außerdem nehmen der drohende Rückbau der Globalisierung und der Umbau von Lieferketten Kosteneffizienz aus dem System – ebenfalls zulasten des Wachstums.
„Eine hohe Inflation zieht immer einen Verteilungskampf nach sich.“
Sebastian Becker, Deutsche Bank Research
Wachstum ist aber der wichtigste Treiber für steigende Staatseinnahmen – und am Wachstum hängt der Spielraum der Politiker, ohne neue Schulden zu gestalten. Darum haben die Volksvertreter auch ganz ohne den Druck aus der Bevölkerung ein Interesse an stabilen Preisen.
Zumindest in Deutschland, wo niemand den Zusammenhang bezweifelt. Andernorts ist das Narrativ von stabilem Geld und Wachstum nicht ganz so eingängig, bei unseren Nachbarn ist man von einer Inflationspsychose weit entfernt. Und das aus gutem Grund: In der Zeit nach dem Wiederaufbau und bis zur deutschen Wiedervereinigung wiesen Frankreich, Spanien und Italien erheblich höhere Inflationsraten, aber auch ein deutlich stärkeres Wachstum als Deutschland auf.
Ein Schreckgespenst sieht anders aus. Finanzpolitiker und Zentralbanker in den drei großen südlichen Staaten können mit fünf Prozent Inflation vermutlich deutlich ruhiger schlafen als unsereins. Wenn dabei auch noch die Staatsschulden abschmelzen, ist das umso besser. Darum sollten wir auf den gewohnten Schulterschluss von Finanzminister und Notenbankchef zur Inflationsbekämpfung in alter bundesrepublikanischer Manier in Euroland besser nicht vertrauen.
05/2022
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.