Amerika hat den Kapitalmarkt, China den geduldigen Staat. Europa hat beides nicht – und braucht doch dringend eine Finanzierung für den Umbau der Volkswirtschaft.
Die USA und China sind nicht nur die Gegenspieler in der Weltpolitik, sondern stehen auch für zwei ganz unterschiedliche Wirtschaftssysteme. „In China lenkt der Staat beziehungsweise die Partei die wirtschaftliche Entwicklung, in den USA finanziert der Kapitalmarkt unternehmerische Innovation“, sagt Stefan Schneider, Chefvolkswirt für Deutschland bei Deutsche Bank Research.
Das ist natürlich etwas zugespitzt. In China gibt es zwar viele Staatsunternehmen und klare Leitplanken für die wirtschaftliche Entwicklung, das Wachstum wird aber von Unternehmen in Privatbesitz erwirtschaftet. Und in den USA gründet der Erfolg von Innovationsleuchttürmen wie Apple oder Tesla auch auf staatlicher Hilfe: Grundlegende Technologien wie GPS, Touchscreen, Siri und das Internet sind dank öffentlicher Forschungsgelder in Instituten, Universitäten oder auch beim Militär entwickelt worden. Tesla profitiert ebenfalls von Staatshilfen, Steuernachlässen und Absatzsubventionen.
Klar ist aber: Auch wenn China Markt zulässt und die USA Industriepolitik betreiben, so haben beide Volkswirtschaften einen eindeutigen USP in ihrem Geschäftsmodell. In China verfolgt ein Staat mit sehr langfristiger Perspektive unerschütterlich den Weg zu einer hoch entwickelten Volkswirtschaft und Weltmacht. Die USA verfügen nicht nur über die Leitwährung der Welt, sondern auch über einen ebenso breiten wie tiefen Kapitalmarkt, der für den richtigen Preis fast jedes Risiko finanziert – und Amazon 20 Jahre lang immer wieder begeistert mit Kapital versorgte, obwohl das Unternehmen praktisch keinen Gewinn auswies.
Der unaufhaltsame, auch qualitative Aufstieg Chinas und die Vormachtstellung der USA in den Zukunftstechnologien beweisen, dass beide Geschäftsmodelle funktionieren. Was hat Europa dem entgegenzusetzen? Das westliche Anhängsel der gigantischen asiatischen Landmasse war einige Jahrhunderte lang das Powerhouse der Welt, das Innovation, Wachstum und Weltmachtstatus vereinte. Die Führungsrolle in der Welt ist zwar seit mehr als 100 Jahren an die Amerikaner übergegangen, doch noch heute profitieren die Europäer von der alten Stärke: Global vernetzte Volkswirtschaften, hervorragend ausgebildete Menschen, viel investierbares Kapital, stabile soziale Strukturen in Rechtsstaaten und ein hoher technologischer Standard haben sich erhalten.
Xi Jinping verkörpert einen strategischen Staat, der geduldig Wirtschafts- und Militärmacht aufbaut. Joe Biden setzt, obwohl im amerikanischen Spektrum eher staatsnah verortet, vor allem auf den Markt. Ursula von der Leyen steht für eine EU, die ihre Rolle in der Welt neu definieren muss und noch eine Strategie sucht.
Das sind gute Zutaten – doch es fehlt ein Rezept für die Zukunft. Mit dem Aufstieg Chinas und dem teilweisen Rückzug der USA als Ordnungsmacht in der Welt ist aus einem unipolaren ein bipolares System entstanden. Das Ringen der beiden Großmächte hat auch Folgen für die Ökonomie. Insbesondere sind beide Staaten nicht (mehr) davon überzeugt, dass ein regelbasiertes System auf einem „Level Playing Field“ ihnen zum größtmöglichen Vorteil gereicht. Auch einige Mittelmächte verstehen Ökonomie und Handel zunehmend als Teil von Machtpolitik. Dadurch ist die Akzeptanz lange gültiger Spielregeln gesunken, das Recht des Stärkeren hält vermehrt Einzug.
In diesem Spiel nach neuen Regeln droht ein Europa, das sich an die alten Spielregeln hält, als Verlierer vom Platz zu gehen. Darauf muss Europa strategisch reagieren und die eigene Stärke ausbauen und zeigen. Chefvolkswirt Schneider stützt diese Forderung: „Wenn ein Staat ein Investitionsschutzabkommen abschließt, muss er auch für die Durchsetzung sorgen.“
Darüber hinaus ist Schneider zurückhaltend bei staatlichen Eingriffen. Ein paar Ansatzpunkte kann er sich aber vorstellen: „Ich kann verstehen, wenn der Staat in einer Schlüsselindustrie wie der Automobilbranche Investitionen übernimmt, die der Sektor nicht schultern kann. Und ich sehe eine Aufgabe in der Bildung von Plattformen, die etwa dem Mittelstand Kooperationen beim Thema künstliche Intelligenz erleichtern.“
Nicht gelöst ist damit die Finanzierung. Der durch die digitale Transformation und die Nachhaltigkeitsmaxime notwendige Umbau der Volkswirtschaften erfordert gigantische Investitionen. Die Unternehmen allein können das nicht stemmen. Aber auch die in Europa traditionell starke Kreditwirtschaft kommt an ihre Grenzen. Kredit kann nur moderate Risiken tragen, viele Investitionen sind aber langfristig und unsicher – dafür braucht es einen leistungsfähigen Kapitalmarkt oder einen weitsichtigen Staat.
Europa hat beides nicht. Die Marktkapitalisierung US-amerikanischer Firmen betrug Ende 2020 das Zweieinhalbfache, die der EU-Unternehmen nur gut die Hälfte des jeweiligen BIP. Auch der Venturecapital-Markt und der Markt für Unternehmensanleihen sind ungefähr fünfmal so groß. Und die EU ist kein Visionär, sondern eher ein Bürokrat auf der Suche nach dem größten gemeinsamen Nenner seiner Mitglieder.
„Die Investitionen kann und muss der Kapitalmarkt stemmen.“
Stefan Schneider, Deutsche Bank Research
Wo die Struktur fehlt, braucht es pragmatische Lösungen. In einem aktuellen Arbeitspapier schlägt die Deutsche Bank einen Umbau der staatlichen Förderung vor, um mehr privates Kapital für den digitalen und nachhaltigen Umbau der Volkswirtschaft zu mobilisieren. Chefvolkswirt Schneider setzt klar auf den Markt: „Die Investitionen kann und muss der Kapitalmarkt stemmen. Die Banken müssen dem Sparer das Eigenkapitalrisiko schmackhaft machen und es durch Streuung abschwächen.“ Keine einfache Aufgabe. An Geldmangel dürften Europas Investitionen in die Zukunft allerdings nicht scheitern: Rund eine Viertelbillion Euro exportieren allein die Deutschen netto Jahr für Jahr an Kapital.
04/2021
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