Staat und Wirtschaft sind siamesische Zwillinge, der eine kann nicht ohne die andere. Aber wie die beiden den Austausch mit Dritten – also den Handel – gestalten, ist eine freie Entscheidung. Und die wird ganz unterschiedlich getroffen.
Kriege sind teuer, und Ludwig XIV. führte sogar außergewöhnlich teure Kriege. Außerdem sicherte der Sonnenkönig seine absolute Macht in Frankreich mit einem umfassenden Beamtenapparat, und er war ein eifriger Bauherr. Um all das finanzieren zu können, ersann sein Finanzminister Jean-Baptiste Colbert ein neues Wirtschaftssystem: den Merkantilismus. Der Staat griff in den freien Handel ein, um den Export zu maximieren und den Import zu minimieren. Damit sollte mehr Geld ins Land fließen als hinaus und letztendlich in der Tasche des Königs landen. Mit den Auslandseinnahmen sollten auch neue Arbeitsplätze in Manufakturen geschaffen werden, die wiederum die Inlandsnachfrage erhöhen und für Wachstum sorgen sollten.
Der Staat setzte der Wirtschaft klare Regeln: Die Feiertage wurden reduziert, Versammlungs- und Streikverbote ausgesprochen und genaue Vorgaben für die Produktion erlassen. Wer als Unternehmer neue Produktionsverfahren beherrschte, der durfte mit Steuernachlässen, einer Monopolstellung oder staatlichen Darlehen rechnen. Viele andere kontinentaleuropäische Staaten übernahmen das Modell. Allerdings wurde bald deutlich, dass Merkantilismus kein allgemeingültiges Konzept sein kann: Nicht alle Volkswirtschaften können mehr exportieren als importieren, es braucht auch Käufer. So wurden noch zu Ludwigs Lebzeiten Freihäfen eingeführt und wieder ausgewogene Handelsverträge abgeschlossen.
Noch deutlicher als im Merkantilismus ist das Primat des Staats in der Autarkie. Diese Wirtschaftspolitik ist in unserer Zeit verpönt – nur die Parias der Weltgemeinschaft wie Albanien vor dem Fall der Mauer oder heute Nordkorea versuchen, weitgehend ohne Handel mit anderen Staaten auszukommen. Das war allerdings nicht immer so: Für Platon, der vor 2500 Jahren in einer Welt miteinander verfeindeter griechischer Stadtstaaten lebte, war Autarkie das Hauptziel des idealen Staates. Heute haben dagegen praktisch alle Länder erkannt, welchen Wohlstand der Austausch von Gütern und Dienstleistungen mit sich bringt.
Für Platon war Autarkie das Hauptziel des idealen Staates.
Für manche war das ein durchaus schmerzhafter Lernprozess. Wie Autarkie schwächt und eine Weltmacht zum Vasallen werden kann, zeigt die Entwicklung in China: Nachdem die große Pest im 14. Jahrhundert die Seidenstraße lahmgelegt hatte, kontrollierte die Regierung in der Ming-Dynastie nicht nur den Binnenhandel durch staatliche Monopole und Preiskontrollen, sondern verhängte für ungenehmigte Reisen ins Ausland die Todesstrafe. Später wurde zwar wieder ein bisschen Handel erlaubt, aber China verlor durch den Mangel an Austausch die ökonomische und militärische Wettbewerbsfähigkeit. So wurde aus dem stolzen Reich der Mitte im Laufe weniger Jahrhunderte ein Staat, der sich von kleinen aufstrebenden europäischen Nationen herumschubsen lassen musste – der Opiumkrieg 1840–42, der die Machtverhältnisse deutlich dokumentierte, wird in China bis heute als tief sitzender Stachel empfunden.
Zwischen Autarkie und freiem Handel liegt ein gewaltiger Graubereich. Der ökonomische Nutzen globaler Arbeitsteilung ist evident, dem stehen aber zwei ökonomische (und politische) Kerninteressen von Staaten entgegen. Das eine ist das Bestreben, bei essenziellen Gütern möglichst unabhängig zu sein. Aktuell überlegen wir fieberhaft, wie wir bei der Versorgung mit Energie zumindest ein gewisses Maß an Autarkie erreichen können. Und Russland hat schon Jahre vor dem Ukrainekrieg versucht, sich durch ökonomische Unabhängigkeit ein Höchstmaß an politischem Handlungsspielraum zu sichern.
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Neben der Versorgungssicherheit ist auch der Schutz der einheimischen Wirtschaft vor unliebsamer Konkurrenz ein Kernanliegen von Staaten. Mit dem Argument „unfair“ halten etwa die USA etliche Güter aus ihrem Markt heraus, die Europäer argumentieren lieber mit nicht erfüllten Sozial- und Umweltstandards. Auch ein industriepolitischer Entwicklungsansatz („Infant Industry“) setzt auf Schutzmaßnahmen: Ziel ist die rasche Industrialisierung durch den Fokus auf Schlüsselindustrien mit einer Kombination aus Subventionen und hohen Zöllen. In Südkorea und Taiwan funktionierte das ziemlich gut, in Brasilien dagegen wurden Industriezweige aufgebaut, die sich nach Öffnung der Märkte als international nicht wettbewerbsfähig erwiesen.
Heute sind echte Autarkiebestrebungen zwar nicht zu finden, die Abkehr vom Welthandel dagegen ist sehr deutlich – vor allem bei den großen Mächten. Das durch den Handel mit dem Westen erstarkte China hat die Strategie ausgerufen, sich künftig auf die Binnenwirtschaft zu konzentrieren. Und auch die USA zeigen zunehmend protektionistische Tendenzen. Volkswirtschaftlich bedeutet das immer unausgeschöpfte Potenziale. Auf der Ebene einzelner Unternehmen ist die Wirkung sehr unterschiedlich: Für die einen bedeutet Protektionismus teureren Einkauf und verpasste Absatzchancen, für die anderen Schutz vor überlegener Konkurrenz.
Den umgekehrten Weg ist in den vergangenen 60 Jahren Singapur gegangen. Der auf einer Insel gelegene Stadtstaat ist flächenmäßig kleiner als Berlin und verfügt über keinerlei Rohstoffe. Trotzdem liegt das Einkommen pro Kopf um ein Drittel höher als in Deutschland. Singapur ist nach Einschätzung angesehener Institutionen die freieste sowie die für Handel offenste Volkswirtschaft der Welt und weniger korrupt als Deutschland.
In größeren Staaten fordert die Gesellschaft immer auch Schutz, ob das nun sinnvoll ist oder nicht.
Hinter dem ökonomischen Vorzeigestaat steckt „Gründervater“ Lee Kuan Yew, der von 1959 bis 90 Premierminister war. Da die Unabhängigkeit Singapurs im Jahr 1964 von erheblichen Unruhen zwischen chinesischen und nicht chinesischen Bewohnern überschattet war, fand der Visionär eine ungewöhnliche Mischung: fast vollkommene ökonomische Freiheit, verbunden mit einem Staat, der strikt auf die Einhaltung von Recht und Ordnung achtet. Nachtwächter und strenger Polizist zugleich – das ist eine sehr erfolgreiche Kombination, die aber nur kleinen Handelsnationen offensteht. In größeren Staaten fordert die Gesellschaft immer auch Schutz, ob das nun sinnvoll ist oder nicht. Darum ist die Offenheit einer Volkswirtschaft eine politische Entscheidung, die ständig neu gefällt werden muss.
01/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.