Globalisiert die Welt künftig ohne uns?

Während schon eifrig das Totenglöckchen der Globalisierung geläutet und eine Regionalisierung erwartet wird, sollten die Fakten nicht ganz außer Acht gelassen werden. Die Globalisierung wird sich ändern, aber nicht enden. Ob Europa allerdings Teil davon bleibt, ist nicht garantiert.

Globalisiert die Welt künftig ohne uns?

Als im April die Coronakrise ihren ersten Höhepunkt erreichte, mussten viele Containerschiffe eine Zwangspause einlegen wie hier im chinesischen Hafen Qingdao. Foto: Picture Alliance / Zumapress.com

Alles sieht nach einem perfekten Sturm aus für die Globalisierung: Wachsender Nationalismus trifft auf Automatisierung trifft auf Lieferkettenausfälle trifft auf Reisestopp trifft auf Nachfrageloch in der Coronakrise. Und zu allem Überfluss ist das wichtigste Organ der Globalisierung, die Welthandelsorganisation (WTO), seit Anfang September dieses Jahres führungslos. Die Kritik kulminiert: Der soziale Preis der Arbeitsplatzverlagerung wird den Industriestaaten zu hoch, und nun ist auch die Abhängigkeit von anderen Ländern selbst in sensiblen Bereichen offenkundig geworden. Darum stehen in vielen Ländern die komplexen, globalen Wertschöpfungsketten auf dem Prüfstand; der Protektionismus findet neue Nahrung.

Vielen scheint klar, wohin die Reise geht: Der bisherige Hegemon USA zieht sich immer weiter zurück, Regionalmächte kämpfen um die Vorherrschaft; globale Handelsregime wie die WTO werden durch regionale wie das Shanghai Cooperation Agreement oder die Hanse 2.0 ersetzt. Die Welt zerfällt in Regionen. Deutschland (und Europa) holen die Produktion sensibler und höherwertiger Produkte zurück. Das wird zwar teuer, der Preisschock durch das höhere Lohnniveau in Europa wird aber durch den Aufbau von Billigstandorten in Südosteuropa und Nordafrika sowie Fortschritte in Robotik und Automatisierung abgefedert. In absehbarer Zeit werden Maschinen sowieso günstiger sein als asiatische Näherinnen.

Der Chinafaktor

Klingt logisch, ist aber einseitig: Diese als Realismus verkappte Regionalisierungsdebatte spiegelt die Sichtweise einer saturierten und skeptischen Gesellschaft im Verteidigungsmodus. Der Welthandel wird jedoch künftig von einem anderen Geist getrieben: von wachsenden, hungrigen Volkswirtschaften und einer aufstrebenden Weltmacht, die ihr Terrain neu absteckt. China wird sich keinesfalls mit einer regionalen Rolle zufriedengeben – und hat längst globale Tatsachen geschaffen. Das Reich der Mitte hat nicht nur seinen Einfluss und die Handelsverbindungen im südostasiatischen Raum gestärkt. China ist außerdem mittlerweile Afrikas größter Handelspartner, obwohl der Kontinent vor der Haustür Europas liegt und lange von Europa beherrscht wurde. Und der chinesische Einfluss beschränkt sich nicht auf den Handel: Seit 2005 haben die Asiaten mehr als zwei Billionen US-Dollar in Afrika investiert, darunter in viele Infrastrukturprojekte, die den internationalen Handel erleichtern.

Auch im „Hinterhof“ der USA, in Lateinamerika, ist China bereits der zweitgrößte Handelspartner. Der Kapitalbestand an Direktinvestitionen ist von 2005 bis 2019 von 4,2 Milliarden auf 175,5 Milliarden US-Dollar gestiegen. Und im traditionell mit Russland umkämpften Einflussgebiet in Zentralasien schafft die Neue Seidenstraße immer mehr Verzahnung. Im Rahmen der mittlerweile globalen „One Belt, One Road“-Initiative baut China seine Handelsverbindungen in knapp 70 Länder aus. Bis 2040 sollen insgesamt rund 21 Billionen US-Dollar investiert werden.

China investiert kräftig in Afrika

Foto: Yasuyoshi Chiba / AFP / Getty Images

China investiert kräftig in Afrika

Afrikanischer Stolz, chinesisches Geld: Die Infrastruktur wird in Dschibuti und anderswo ausgebaut – auch zum Vorteil Chinas.

China sieht sich in der Globalisierung als Mittelpunkt und als Fabrik der Welt, nicht mehr als verlängerte Werkbank und auch nicht als Absatzmarkt für die Industriestaaten. China beansprucht den Status einer Weltmacht – und will nicht abhängig sein. So sehr China den Zugang zu anderen Ländern fördert und fordert, so sehr grenzt es sich ab. 38 Handelsbarrieren zählte die EU Ende 2019. Im vergangenen Jahr sind vier neue hinzugekommen, die EU-Exporte im Wert von mehr als 15 Milliarden Euro betreffen.

Europa wird sich schwertun, diese Barrieren abzubauen. Denn der Kontinent verliert global an Bedeutung, die Handelsflüsse werden schmaler. Beispiel Afrika, das einige der wachstumsstärksten Länder der Welt umfasst: In den vergangenen Jahren hat Afrika seinen Handel außer mit China vor allem mit Ländern wie Thailand, Indonesien, der Türkei und Russland ausgebaut. Beispiel Lateinamerika: Der Exportanteil Europas und Zentralasiens ist dort innerhalb eines Jahrzehnts um knapp 23 Prozent zurückgegangen; der Anteil Ostasiens am Export hat sich in der Zeit fast verdoppelt. Beim Import konnte nur Ostasien seine Stellung deutlich ausbauen, Europa hat den Anschluss längst verloren. So nahm die relative Bedeutung Europas bei Im- und Exporten nur in Ostasien (also vor allem: China) und Nordamerika zu. Die Gewichte verschieben sich schon lange gen Osten.

Chinas Handelswege werden immer länger

Dabei hat Europa viel zu verlieren. 197 Milliarden Euro betrug der Handelsbilanzüberschuss der Europäischen Union im Jahr 2019. Für mehr als vier Billionen Euro wurden Waren ein- und ausgeführt, die Exportquote lag bei gut 15 Prozent. Doch das Heft des Handelns hat Europa aus der Hand gegeben. Die USA und China führen nicht nur eine geostrategische Auseinandersetzung, sondern haben auch unterschiedliche Vorstellungen davon, wie der globale Handel zu organisieren ist. Wenn sich beide – was eine echte Gefahr ist – nicht auf ein gemeinsames Regime einigen können, wird wie so oft in der Geschichte das Recht des Stärkeren gelten. Regionalmächte wie Russland, Brasilien oder die Türkei betrachten Handel ebenfalls eher als Machtfrage. Europa dagegen hat ein großes Interesse an einem regelbasierten Handel, wie er im WTO-Regime stattfindet. Allein: Europa wird nicht gefragt. Und gehört werden wird es nur, wenn es endlich mit einer Stimme spricht.

Masken- und Impfstoffdiplomatie

„Ich erwarte nicht, dass Europa sich abschottet“, sagt Erich Staake, Chef des Duisburger Hafens, der vom Handel mit China lebt. „Aber ich habe Sorge, dass wir wirtschaftlich unsere Stärken nicht ausspielen können, weil wir die großen Themen der Zukunft nicht gesamteuropäisch angehen und unseren eigenen Standpunkt in der Welt nicht klar vertreten.“ Die chinesische Offensive kann Staake gut nachvollziehen: „Die Chinesen nutzen doch nur die Lücken, die von den Europäern und den Amerikanern nicht gefüllt werden.“

„Die Chinesen nutzen doch nur die Lücken, die von den Europäern und den Amerikanern nicht gefüllt werden.“

Erich Staake, Chef des Duisburger Hafens

Das zeigt sich auch in der Pandemie. Auch wenn Chinas Handelsvolumina im Frühjahr – auf dem Höhepunkt der Epidemie in der Volksrepublik – weltweit massiv eingebrochen sind, könnte die Coronakrise die Stellung des Landes sogar noch festigen. Und während Europa und die USA mit sich beschäftigt waren, konnte China mit dem Versand von medizinischen Hilfsgütern seine Position in Lateinamerika, dem traditionellen Einflussgebiet der USA, ausbauen.

Nabelschau im Westen

Längst nicht alles gelingt China dabei. Die „Maskendiplomatie“ ist zumindest in Europa zum Eigentor geworden, weil die Produktqualität mangelhaft war. Und ob die versprochene Versorgung von Nichtindustrieländern mit chinesischen Impfstoffen gegen Covid-19 wirklich umgesetzt werden kann, muss sich erst zeigen. In Afrika regt sich zudem Widerstand gegen die Abhängigkeit von China: Viele Staaten haben Infrastrukturprojekte mit chinesischen Krediten finanziert, sehen aber wenig Vorteile für den eigenen Export darin. Es sei vor allem China, das von Häfen oder Bahnlinien profitiere.

Die Neue Seidenstraße endet in Duisburg

Foto: Picture Alliance / DPA / Bernd Thissen

Die Neue Seidenstraße endet in Duisburg

China stärkt die Handelsbande mit Afrika, Lateinamerika – und Europa. Bis nach Deutschland reicht die Neue Seidenstraße Chinas für schnelleren Güterverkehr. Immer mit dem Segen der Politik.

Es gibt allerdings kaum Hinweise, dass Europa diese Risse für sich nutzen wird. Die EU hat zu Beginn der Coronapandemie wenig Zusammenhalt gezeigt, sondern auf Nationalstaatsebene unabgestimmte Einzelstrategien verfolgt. Und der Kontinent ist unentschlossen, ob er weiterhin auf das transatlantische Bündnis mit einem zunehmend in sich gekehrten Hegemon USA setzen oder sich näher an das autoritär regierte China binden soll.

Der Faktor Digitalisierung

Außerdem ist Europa strategisch schlecht positioniert. Seit Jahren verliert der globale Warenhandel an Bedeutung, dafür gewinnen Dienstleistungen und Daten an Gewicht. Anders als den USA ist es Europa bislang nicht gelungen, globale Digital-Champions aufzubauen. Auch Chinas Digitalkonzerne sind nicht weltweit etabliert, sondern vor allem in der Region stark – so wie es auch in Afrika und Lateinamerika teilweise eigene Amazon-Konkurrenten gibt. Die Coronapandemie hat gezeigt: Von Videokonferenzen über Homeschooling bis Telemedizin und Unterhaltung – die neuen Lösungen für die Zukunft der Wirtschaft kamen nicht aus Europa.

Sollte Macht künftig wieder eine wichtigere Rolle im Handel spielen, wird die EU das Nachsehen haben, weil die beiden großen Rivalen ebenso wie einige regionale Mächte dieses Spiel deutlich besser beherrschen. Europa in seiner heutigen Verfassung kann nur in einem regelbasierten Regime reüssieren. Falls der Welthandel nach Regeln abläuft, die den europäischen Werten widersprechen, kann Europa sich ausklinken. Die Welt globalisiert dann ohne Europa weiter. Wenn Europa die Chancen des Handels, der es einst zur Blüte brachte, weiterhin guten Gewissens nutzen will, muss es sich in einem zunehmend von Machtfragen dominierten Handelssystem als Einheit mit klarer Position und Vision präsentieren. Dann wird die (mit UK) größte Volkswirtschaft der Welt auch Gehör finden.

01/2021
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.