Wo bleiben die Lohnerhöhungen?

Steigt die Nachfrage nach einem knappen Gut, steigen die Preise. Angesichts des Fachkräftemangels müssten die Löhne schier explodieren. Warum passiert das nicht?

Wo bleiben die Lohnerhöhungen?

In der frühkindlichen Erziehung sind die Löhne zuletzt deutlich gestiegen – aber das ist offenbar eine der wenigen Ausnahmen. Foto: picture alliance / Winfried Rothermel

„Den Fachkräftemangel gibt es gar nicht. Denn sonst würden die Reallöhne deutlich steigen. Das passiert aber nicht.“ Diese These vertreten nicht etwa meinungsfreudige Laien, sondern erfahrene Arbeitsmarktökonomen wie Simon Jäger, bis vor Kurzem noch Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit. Oder Ifo-Chef Clemens Fuest. Ihrem Befund über den Fachkräftemangel dürften zwar fast alle Unternehmer widersprechen angesichts von rund 1,8 Millionen Stellen, die hierzulande unbesetzt sind. Aber die Beobachtung der Reallöhne stimmt.
Viele Jahre lang wuchsen die Reallöhne nur minimal, in den beiden Inflationsjahren 2022 und 2023 sind sie sogar deutlich geschrumpft. Zwischen 1991 und 2019 lag der Reallohnzuwachs insgesamt nur bei 12,9 Prozent (Das Bruttoinlandsprodukt hat sich mehr als verdoppelt.), in den Folgejahren zwischen minus 4 Prozent und plus 0,1 Prozent im Jahr. In der klassischen Lehre hängt die Reallohnentwicklung stark von der Produktivität ab: Wer produktiver wird, kann mehr verdienen. Nur: In den Jahren 1991 bis 2019 ist die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen doppelt so stark gestiegen wie die Reallöhne. Produktivität und Lohn haben sich über viele Jahre entkoppelt, zum Nachteil der Arbeitskräfte.

Zwischen 1991 und 2019 lag der Reallohnzuwachs insgesamt nur bei 12,9 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich in der Zeit mehr als verdoppelt.

Produktion wuchs, Löhne nicht

Diese Entwicklung wurde vor allem mit Automatisierung und Globalisierung erklärt. Die Automatisierung habe menschliche Arbeit substituiert. Und mit Beginn der Globalisierung hätten Unternehmen aus Industriestaaten andernorts deutlich günstiger produzieren können. Doch diese Argumente hatten schon immer Schwächen. Studien zeigen, dass in der Vergangenheit Automatisierungswellen nicht zu einem Rückgang des Lohnanteils, sondern zu höheren Vergütungen und besseren Arbeitsbedingungen geführt haben. Und allem Outsourcing im Zuge der Globalisierung zum Trotz ist die Nachfrage nach Arbeit in Ländern wie den USA keinesfalls zurückgegangen, erst recht nicht im Niedriglohnsektor – die Beschäftigung ist weiter gewachsen.

Globalisierung und Automatisierung können die schwache Lohnentwicklung bei gleichzeitig steigender Produktivität nur zum Teil erklären. Auch der Bedeutungsverlust von Gewerkschaften und Tarifverträgen sowie die strukturelle Auslagerung in Unternehmensteile mit geringerem Lohnniveau werden zur Entwicklung beigetragen haben.

Stagnation

Doch das erklärt nicht, warum die Löhne auch jetzt nicht steigen, da das Geschäftsmodell Globalisierung offenbar ausgereizt ist – und das Angebot an Arbeitskraft immer rarer wird. Die Perspektive der Arbeitgeber: Wenn die Produktivität nicht steigt, kann auch nicht mehr gezahlt werden. Tatsächlich wächst die Produktivität seit 2017 kaum noch; in der Corona-Zeit ist sie deutlich geschrumpft. Unternehmen können sich nach dieser Lesart nicht leisten, Arbeitskräften mehr zu zahlen – auch wenn diese knapp sind. Es wird schon jetzt gewarnt vor Inflation und Verlust der Wettbewerbsfähigkeit durch überhöhte Tarifabschlüsse.

Das Produktivitätsargument greift aber zu kurz. Studien zeigen, dass steigende Löhne die Produktivität sogar verbessern. Demnach führen höhere Lohnkosten zu einem höheren Effizienzdruck, Automatisierung und Innovationen werden vorangetrieben. Arbeitgeber müssten mehr als zuvor danach schauen, wie sie teurere Arbeitnehmer effizienter einsetzen. Die Lohnstagnation der vergangenen Jahrzehnte könnte eine Erklärung dafür sein, dass deutsche Unternehmen seit den frühen 1990er-Jahren ihre Nettoinvestitionen zurückgefahren haben – trotz anhaltend steigender Unternehmensgewinne, wie die arbeitnehmerfreundliche Hans-Böckler-Stiftung gezeigt hat.

Imperfekter Arbeitsmarkt

Eine weitere Erklärung für die ausbleibende Lohnsteigerung: Selbst wenn Unternehmen bereit wären, mehr zu zahlen – es finden sich keine geeigneten Bewerber. Gerade in Deutschland sind Arbeitnehmer (abgesehen von der großen Wanderung von Ost- nach Westdeutschland nach der Wende) deutlich weniger mobil als beispielsweise in den USA. Nicht jede Arbeitskraft weiß überhaupt, dass sie andernorts deutlich mehr verdienen könnte. Oder sie scheut den mit dem Wohnortwechsel oder der Pendelei verbundenen Aufwand. Und: „Nicht jede Tätigkeit ist attraktiv, auch wenn mehr gezahlt wird“, weiß Arbeitsmarktexperte Marc Schattenberg von Deutsche Bank Research. Aspekte wie hohe Arbeitsbelastung, Schichtarbeit oder ein unangenehmes Arbeitsumfeld lassen sich mit Geld nicht immer kompensieren. Das zeigt sich beispielsweise in Pflegeberufen oder bei Lastkraftwagenfahrern.

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„Arbeitgeber wären bereit, mehr zu zahlen, wenn ihre Anforderungen auch erfüllt werden“.

Marc Schattenberg, Deutsche Bank Research

„Arbeitgeber wären bereit, mehr zu zahlen, wenn die Anforderungen auch erfüllt werden“, sagt Schattenberg. Fehlen die Kompetenzen, steigen im Unternehmen die Lohnkosten, aber nicht die Produktivität. Letztlich wird Arbeitskraft verschoben, aber die Gesamtproduktivität steigt nicht oder nur sehr verzögert.

Arbeitgeber erleben zudem, dass Lohnzuwächse das Problem ihres Personalmangels im eigenen Unternehmen verschärfen können: Können Arbeitnehmer dank Lohnerhöhung künftig bei weniger Arbeit so viel Monatseinkommen erzielen wie zuvor, steigt das Interesse an einer Arbeitszeitreduzierung. Denn quer durch alle Altersklassen zeigt sich, dass die Flexibilisierung der eigenen Arbeitszeit (und das bedeutet oft: Verringerung) an Bedeutung gewonnen hat. Mehr Gehalt führt damit nicht automatisch zu einer Ausweitung der Arbeitszeit, sondern kann das Gegenteil bewirken. Das Interesse von manchem Arbeitgeber an einer deutlicheren Lohnerhöhung kann darum durch den Fachkräftemangel sogar sinken.

Zahlen verdecken die Entwicklung

Allerdings zeigen die aggregierten Zahlen auch nicht das gesamte Bild. Der deutsche Arbeitsmarkt ist in Bewegung. „Wir sehen beispielsweise seit Jahren eine Ausweitung von Dienstleistungen in der Wirtschaft“, erklärt Deutsche Bank Research-Experte Schattenberg. „Während tendenziell gut bezahlte Tätigkeiten in der Fertigung automatisiert werden, steigt die Beschäftigung in geringer bezahlten Arbeitsbereichen. Zugleich steigt die Nachfrage nach besonders hochqualifizierten, nachgefragten Tätigkeiten.“ Das bedeutet aber nicht, dass damit der Niedriglohnsektor automatisch wächst. Zumindest nicht dauerhaft: Bis 2008 ist er deutlich größer geworden, danach hat er lange stagniert – und ist zuletzt sogar markant geschrumpft. Auch der Abstand zwischen den höchsten und niedrigsten Stundenlöhnen, die Lohnspreizung, ist seitdem wieder kleiner geworden. In der Mitte jedoch gab es in den vergangenen Jahrzehnten eine Erosion: Die Nachfrage nach mittleren Qualifikationen nahm signifikant ab, die nach niedrigen und hohen Qualifikationen wuchs dagegen. Die Datenlage im Hochlohnsektor ist allerdings deutlich schlechter als im Niedriglohnsektor. Doch es liegt nahe anzunehmen, dass es Unternehmen besser gelingt, niedrigqualifizierte Positionen zu besetzen als hochqualifizierte. Kurzum: Jeder Job für sich kann dadurch zwar besser bezahlt sein als zuvor, doch arbeiten in Summe mehr Deutsche in relativ schlechter bezahlten Tätigkeiten.

Wird sich der Trend umkehren?

Es gibt keine einfache Erklärung, warum der grundlegende Mechanismus von Nachfrage und Preis in einem von Fachkräftemangel geprägten Arbeitsmarkt nicht zu wirken scheint. Die Schwierigkeit, Arbeitsplätze überhaupt zu besetzen, führt dazu, dass deutlich höhere Löhne möglicherweise gar nicht erst gezahlt werden können. Aber auch die Prioritäten der Arbeitnehmer haben sich verschoben, weil sie nicht mehr die Verlagerung von Jobs durch die Globalisierung und damit eine Massenarbeitslosigkeit fürchten. Dadurch sinkt die Bereitschaft zur Mobilität und zur Annahme auch unbeliebterer Tätigkeiten – unabhängig vom Gehalt. Auch wenn aktuell (und voraussichtlich auch noch 2025) die Tarifverträge deutliche Zuschläge zeigen, muss dies nicht zwangsläufig einen anhaltenden Reallohnschub bedeuten.

Mittelfristig dürfte sich der Arbeitsmarkt aber vor allem ausdifferenzieren: in Fachkräfte, die mit ihren Fähigkeiten die Produktivität wirklich erhöhen – und solche, die zwar auch gesucht sind, aber nur das bestehende Produktivitätsniveau erhalten würden. An beiden ist Mangel, aber in der ersten Gruppe wird der Lohnanstieg viel stärker sein.

05/2024
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.


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