Keine Angst! Der Umgang mit einer unberechenbaren Welt

Machen wir uns nichts vor: Disruptionen und Krisen werden in Zukunft noch häufiger werden, die vergangenen Jahre waren nur ein Vorgeschmack. Aber das sollte uns nicht verrückt machen. Unternehmen und Mitarbeiter können lernen, mit den neuen Herausforderungen umzugehen.

Erdbeben wie dieses nahe Soryomachi Anfang des Jahres sind in Japan beinahe Alltag. Dennoch lassen sich die Folgen nicht vorhersagen. Die Menschen haben gelernt, damit umzugehen.

Erdbeben wie dieses nahe Soryomachi Anfang des Jahres sind in Japan beinahe Alltag. Dennoch lassen sich die Folgen nicht vorhersagen. Die Menschen haben gelernt, damit umzugehen. Foto: Picture Alliance / REUTERS / Kim Kyung-Hoon

Volatil, ungewiss, komplex, doppeldeutig – oder englisch verkürzt: VUCA. „Wir leben in einer VUCA-Welt“, predigten Unternehmensberater vor einigen Jahren. Dabei hatten sie vor allem die digitale Transformation im Sinn, dachten an die Vernetzung der Globalisierung und Megatrends wie den demografischen Wandel. Der Rat der Berater: Unternehmen sollten agiler und flexibler werden mit Simulationen, mehr Daten und Transparenz. Mit flachen Hierarchien, einer langfristigen Vision statt Jahresplänen und Führung durch Vertrauen. Mit Verständnis für das, was kommen könnte – auch wenn es nicht eintreten sollte.

Das mag für die Zeit bis 2020 geholfen haben. Aber inzwischen ist die Welt weiter. Und statt VUCA gilt jetzt BANI.

Das Akronym ist noch wenig bekannt, erfunden wurde es kurz nach Beginn der Corona-Lockdowns Ende April 2020 vom US-Zukunftsforscher Jamais Cascio. BANI steht für brittle (brüchig), anxious (ängstlich), non-linear (nicht linear) und incomprehensible (unverständlich). Die Bezüge zur Coronapandemie liegen offen: Lieferketten sind längst nicht so stark, wie sie von außen scheinen. Die Welt blickt ängstlich auf die Verbreitung einer tödlichen Krankheit, die sich nicht nur unberechenbar verbreitet, sondern dessen Erreger immer wieder mutiert. Selbst die besten Wissenschaftler standen lange vor einem Rätsel. Doch das „Ende“ von Corona ist nicht das Ende von BANI.

Mit Corona ist es nicht vorbei

Klimawandel und künstliche Intelligenz sind ebenso unverständlich und für viele beängstigend. Selbst Klimaforscher verstehen erst im Ansatz, wann sogenannte Kipppunkte erreicht sind und wie sich diese auf komplexe Systeme wie die atlantische Umwälzzirkulation auswirken. Die Entwickler von künstlicher Intelligenz diskutieren über die Folgen und Gefahren einer nicht menschlichen Intelligenz, die fast alles viel schneller, günstiger und besser erledigen kann als der Mensch.

Wenn diese offenbar unausweichlichen Entwicklungen selbst für Experten zu komplex und zu -disruptiv sind, um sie zu modellieren oder manchmal auch nur zu verstehen – wie soll es dann den anderen Menschen gehen?

Die Folgen sind sichtbar: Angst, teilweise Panik, Resignation und oft auch ein Ausblenden von Komplexität, eine Flucht in einfache Lösungen. Die demokratischen Systeme geraten nicht nur in Deutschland an ihre Grenzen, überall wächst die Sehnsucht nach klaren Vorgaben und unterkomplexen Antworten. Oder die Realität und die Warnungen vor dem, was kommen könnte, werden negiert und ausgeblendet. Diejenigen, die sich am wenigsten mit KI auseinandergesetzt haben, machen sich am wenigsten Sorgen, von ihr ersetzt werden zu können. Angst und Panik sind genauso wie Populismus oder Ignoranz keine guten Ratgeber, um in einer BANI-Welt zu bestehen.

Ein klarer Blick

Was heißt das für Unternehmen? Ein Unternehmen, dessen Führungskräfte und Mitarbeiter Entwicklungen ignorieren oder in Schockstarre verfallen, hat schlechtere Zukunftsaussichten als eines, das lernt, mit der Situation umzugehen. „Das Zeitalter des Chaos bewältigen“, fordert Jamais Cascio. Dazu gehört, sich der Unsicherheiten bewusst zu werden. Ein brüchiges System erscheint oft stabil und gefestigt, doch in Wirklichkeit ist es nicht resilient. Eine Monokultur in der Agrarwirtschaft kann über Jahre zu hohen Erträgen führen, aber durch ein unvorhergesehenes Ereignis ausgelöscht werden. Oft sind es auf Effizienz und maximalen Ertrag getrimmte Unternehmen, die erfolgreich wirken, aber urplötzlich zusammenbrechen.

„Wir leben im Zeitalter des Chaos – einer Zeit, in der sich die Realität unserem Verständnis aktiv zu widersetzen scheint. “

Jamais Cascio

Diese Risiken, schreibt Cascio, sind nicht neu. Doch sie sind heute weitreichender. Als ein aus Nordamerika eingeschleppter Pilz die gesamte Kartoffelernte vernichtete, hungerte vor allem Irland. Wenn heute die kostenoptimierte Pharmaproduktion im indischen Hyderabad ausfällt, werden die Folgen weltweit zu spüren sein. Wie brüchig unsere globalen Lieferketten sind, zeigte auch die Havarie des Containerschiffs „Ever Given“ im Suezkanal. Netzwerke versprechen Stärke und Flexibilität, doch es erweist sich oft genug, dass ein einziges Element das gesamte System lähmen kann.

Eine kleine Aktion kann zu einer großen Reaktion führen – und nicht immer sind die Verbindungen linear wie im Suezkanal. Der Flügelschlag des Schmetterlings in Brasilien, der zum Wirbelsturm in Texas beiträgt, ist nicht nur ein Gedankenspiel der Chaostheoretiker. Ein Hackerangriff kostet wenig Geld, kann aber riesige Schäden verursachen. Der Klimawandel macht Extremwetterereignisse wahrscheinlicher, aber er kann zugleich zu einem Schneechaos hier und einer Hitzewelle dort führen. Die Nichtlinearität von Auswirkungen macht diese unverständlich. Manche Menschen zweifeln darum, ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt, andere graben sich durch immer größere Datenmengen, um eine Verbindung nachzuweisen.

Die Erfahrung zeigt: Ein Mehr an Daten erhellt selten die Außenstehenden. Noch nie war Information so einfach zu erhalten, doch die Verwirrung wächst eher noch. Im Zweifelsfall macht das mehr Angst oder führt zu völlig absurden Schlussfolgerungen. Potenziertes Halbwissen führt nicht zu mehr Verständnis, so wie ½ im Quadrat nur ¼ ergibt.

Neue Strategien

Akzeptieren Unternehmen aber, dass sie nicht wissen, was sein wird – und welche Folgen diese Unberechenbarkeit auf Risikomanagement und Mitarbeiterführung hat –, dann betreten sie neue Wege. Das beginnt bei der eigenen Resilienz, auch wenn das auf Kosten der Effizienz gehen mag. Der bisher einzige Zulieferer wird durch einen zweiten oder dritten ergänzt. Eine zentrale Position im Unternehmen wird um einen Stellvertreter erweitert, weil im Flugzeug auch immer ein Co-Pilot sitzt, obwohl der Autopilot bereits die meiste Arbeit macht. Angst und Anspannung, die sich mitunter in Resignation äußern, kann mit Empathie, Aufmerksamkeit und Kommunikation begegnet werden. Nichtlinearität verlangt Flexibilität und einen „Blick über den Tellerrand“, gegen Unverständlichkeit empfiehlt Cascio Transparenz, aber auch Intuition. Allerdings verwendet der Zukunftsforscher gedanklich mehr Zeit auf die Analyse der Ist-Situation, als konkrete Empfehlungen zu geben, wie man ihr begegnet.

... mich für den monatlichen Newsletter registrieren.

Spannende Informationen und relevante Themen aus der Wirtschaft und Finanzwelt in kompakter Form für Ihren unternehmerischen Alltag und für Ihre strategischen Entscheidungen.

Wir machen Wirtschaftsthemen zu einem Erlebnis.

So unberechenbar das Chaos scheint, so unvorhersehbar sind seine Chancen.

Führungskräfte und Mitarbeiter können den konstruktiven Umgang mit dem Chaos lernen, indem sie sich selbst Brüchen aussetzen und den eigenen Horizont erweitern. „Novaturient“, veränderungswillig, lautet der Fachausdruck. In der Praxis heißt das, Routinen zu wechseln, Teams zu durchmischen und umzusetzen, was bislang unnötig oder ineffizient erschien. Auch das bewusste Einnehmen einer Gegenposition hilft, sich schneller in neue Situationen hineinfinden zu können. Es wird wichtig, dass insbesondere Führungskräfte über Anpassungsfähigkeit verfügen und zuversichtlich in die Zukunft blicken. Denn so unberechenbar das Chaos erscheint, bietet es ebenso unvorhersehbare Chancen und Vorteile – die aus Sorge vor den Nachteilen leicht vergessen werden. Intuition, das Bauchgefühl (das insbesondere bei mittelständischen Unternehmern legendär sein soll), hilft, sich Komplexität und Unberechenbarkeit zu nähern. Allerdings sollte Intuition immer auch mit Offenheit für neue Erkenntnisse und Recherche einhergehen, denn manche Entwicklung ist kontraintuitiv: Dass die Erderwärmung zu mehr Schnee führt, widerspricht der Intuition, lässt sich mit Fakten aber schnell nachvollziehen.

Schwierigkeiten in der Umsetzung

In einigen Bereichen haben die Unternehmen bereits begonnen, sich für die Risiken der BANI-Welt zu rüsten. Jeder zweite Anbieter in der produzierenden Industrie kooperiert mit neuen Lieferanten und verringert Abhängigkeiten, ergab eine Befragung von Sopra Steria und dem F. A. Z.-Institut. Demnach sorgen Unternehmen für mehr interne Kommunikation, erweitern psychologische Angebote, vergrößern Handlungsspielräume, stärken die interne Fehlerkultur und bauen die interne Weiterbildung aus. Doch sie stoßen auch schnell an Grenzen – weil das Personal fehlt. Radikale Effizienz als unbeabsichtigte Folge des Fachkräftemangels.

Doch vielleicht sind es gerade die Unzulänglichkeiten des stabilen Ist-Zustands, die Unternehmen am besten auf BANI vorbereiten: Wer mit der bisherigen Perspektive an Grenzen stößt, sucht zwangsläufig nach ganz anderen Lösungen. „Ordnung braucht nur der Dumme, das Genie beherrscht das Chaos“, soll Albert Einstein einst gesagt haben. Nicht jeder ist ein Genie, und Ordnung behält ihren Platz im Unternehmen – aber Angst vor dem „Chaos“ lähmt und gefährdet Unternehmen. Die gute Nachricht: Zuversicht und Akzeptanz von Unberechenbarkeit, Resilienz und Flexibilität im Umgang mit den Folgen lassen sich erlernen.

08/2024
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.




Das könnte Sie auch interessieren

Geschäftsstrategie

Geschäftsstrategie

Wie gut sind Deutschlands Manager?

Die Unzufriedenheit mit Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung ist auf Seiten der Unternehmen besonders groß. Doch haben nicht vielleicht auch die Manager selbst einen Anteil an der schlechten Performance?

Die Unzufriedenheit mit Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung ist auf Seiten der Unternehmen besonders groß. Doch haben nicht vielleicht auch die Manager selbst einen Anteil an der schlechten Performance?

International

International

Industriepolitik: Zeit für die Wende?

Sie sorgen für Wachstum und dürfen im Gegenzug reich werden. Doch wie sieht unser Gesellschaftsvertrag mit den Unternehmern aus? Eine Spurensuche bei Staatstheoretikern und Ökonomen.

Sie sorgen für Wachstum und dürfen im Gegenzug reich werden. Doch wie sieht unser Gesellschaftsvertrag mit den Unternehmern aus? Eine Spurensuche bei Staatstheoretikern und Ökonomen.

„Menschliche Intuition und Kreativität sind weiterhin gefragt“

Der Hype um künstliche Intelligenz hält an. In der Unternehmenspraxis ist die Einbindung von KI nicht so einfach. Bernard Marr, Bestsellerautor und Strategieberater, sagt, wie sich die Lücken schließen lassen.

Der Hype um künstliche Intelligenz hält an. In der Unternehmenspraxis ist die Einbindung von KI nicht so einfach. Bernard Marr, Bestsellerautor und Strategieberater, sagt, wie sich die Lücken schließen lassen.