„Entscheidend ist, wie die Menschen Gerechtigkeit empfinden“

Was ist gerecht? Das hängt vom Standpunkt ab, sagt Sozialwissenschaftler Holger Lengfeld. Und der bestimmt sich durch den sozialen Status.

Foto: Christian Hüller

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Herr Professor Lengfeld, was ist Gerechtigkeit?

Gerechtigkeit ist ein Formbegriff – wie eine Hülle. Wir verwenden den Begriff zwar im Alltag und haben in der Regel eine genaue, wenn auch nicht immer durchdachte Vorstellung, was wir damit meinen. Aber diese Vorstellung teilen nicht alle, und das nehmen wir oft nicht wahr. Wir können uns schlicht nicht vorstellen, dass andere ganz andere Vorstellungen von Gerechtigkeit haben als wir selbst.

Gibt es denn eine objektive Gerechtigkeit?

Da muss man zwischen Abstraktion und Wirklichkeit unterscheiden. Das Copyright auf den Begriff hat die Philosophie: Sie stellt von einem Standpunkt der Überparteilichkeit die Frage, was wir tun sollen. Das ist die Suche nach der objektiven Wahrheit. Wir Sozialwissenschaftler schauen uns dagegen an, was Menschen fühlen und warum. Alle haben gewisse Vorstellungen davon, was gerecht ist, zum Teil sind es auch nur diffuse Ideen. Die Einschätzung ist aber immer subjektiv.

Gibt es denn wenigstens eine objektive Definition von Gerechtigkeit?

Ganz simpel gesprochen: Gerechtigkeit herrscht, wenn jeder bekommt, was ihm zusteht. Das kann man auf das Recht anwenden, auf die Verteilung von Gütern oder auf Chancen. Darüber herrscht durchaus Einigkeit. Nur fallen die Antworten auf die Frage, was dem einen oder dem anderen zusteht, sehr unterschiedlich aus. Und oft sind die Empfindungen besonders stark, wenn man selbst betroffen ist.

Wir können uns schlicht nicht vorstellen, dass andere ganz andere Vorstellungen von Gerechtigkeit haben als wir selbst.

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Schauen wir auf die Verteilung: Wie stark wird das Gerechtigkeitsempfinden von den eigenen Interessen bestimmt? Man hört oft jemanden im Namen der Gerechtigkeit etwas fordern, aber selten auf etwas verzichten …

Es gibt in der Tat eine große Übereinstimmung zwischen Interessen und Wertvorstellungen. Das kann man auch gut erklären: Wir nehmen in der sozialen Rangordnung eine bestimmte Position ein. Und die prägt unsere Vorstellungen davon, wie die Welt aussehen sollte – auch auf einer moralischen Ebene.

Ist das Gerechtigkeitsempfinden unveränderlich, oder wandelt sich die Einschätzung, wenn sich die eigene Position verändert?

Unser Gerechtigkeitsempfinden entwickelt sich schon in der Jugend. Es kann sich noch wandeln, wenn sich die Interessenlage deutlich und nachhaltig ändert. Aber das passiert nicht oft. Gesellschaften sind zwar durchlässig, aber die wenigsten vollführen materiell große Sprünge – weder in die eine noch in die andere Richtung. Allerdings gibt es ein Beispiel, wie sich mit sozialem und materiellem Aufstieg auch Wertvorstellungen verändern, und zwar bei den Studierenden. Die meisten haben wenig Geld und vertreten linke bis linksliberale Positionen. Nach dem Eintritt in die Arbeitswelt erleben sie eine Verteilung nach Leistung, und das irritiert die stark auf Gleichheit ausgerichtete Einstellung – wir nennen das die berufliche Sozialisierung. Aber es gibt nicht viele solcher Mobilitätsverstärker in der Gesellschaft, darum sind die Vorstellungen über Gerechtigkeit im Lebenslauf normalerweise sehr stabil.

Wie kann man eine Debatte über Gerechtigkeit führen, wenn die Vorstellungen der Menschen so weit auseinanderklaffen?

Diese Debatte wird in zahllosen Detailentscheidungen geführt. Demokratische und liberale Gesellschaften regeln Fragen über die Verteilung von Gütern über Mehrheiten. Das ist im Einzelfall immer ein Ringen unterschiedlicher Interessen. Darum ist Gerechtigkeit in der politischen Sphäre auch eine Art Kampfbegriff, um eine materielle Forderung moralisch aufzuwerten.

Kurzporträt Holger Lengfeld

Den Elfenbeinturm hat er wohl noch nie betreten: Holger Lengfeld forscht an der Uni Leipzig mit seinem Themengebiet „Soziale Ungleichheit“ ganz nahe an der Lebenswirklichkeit der Bürger.

Ermöglicht der Rückgriff auf die Gerechtigkeit nicht den Verzicht auf Argumente?

Ich glaube nicht. Diese Verkürzung könnte nur funktionieren, wenn die Gesprächspartner dieselbe Vorstellung von Gerechtigkeit haben. Dann könnte man auf Argumente verzichten. Und genau das ist ja fast nie der Fall. Darum ist es zwingend erforderlich, eigene moralische Forderungen zu begründen, um verstanden zu werden.

Ist das nicht trotzdem ein Missbrauch des Begriffs Gerechtigkeit?

Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive kann ich keinen Missbrauch entdecken. Menschen haben tatsächlich diese moralische Empfindung: Hinter den von Eigeninteressen motivierten Forderungen steckt fast immer auch die Überzeugung, einer gerechten Sache zu dienen. Das kann man teilen oder nicht – aber es ist sehr schwierig, als Teil der Gesellschaft in eine überparteiliche Rolle zu schlüpfen und quasi objektiv zu beurteilen, ob etwas gerecht ist oder nicht. Dann ist das aber auch kein Missbrauch: Entscheidend ist, wie die Menschen es empfinden.

Verstanden. Schön wäre es aber doch, wenn Gerechtigkeit messbar wäre. Ist sie das?

Nicht wirklich. Denn um etwas messbar zu machen, muss man sich auf Parameter einigen, was Gerechtigkeit nicht nur prinzipiell im Sinne von „Gerechtigkeit herrscht, wenn jeder bekommt, was ihm zusteht“, sondern in der praktischen Ausprägung bedeutet. Und da haben wir nun mal sehr unterschiedliche Ansichten.

Hinter den von Eigeninteressen motivierten Forderungen steckt fast immer auch die Überzeugung, einer gerechten Sache zu dienen

Messen kann man aber, ob Menschen sich gerecht behandelt fühlen. Tun sie das?

Seit 1990 werden Menschen in Deutschland regelmäßig befragt, ob sie im Vergleich zu anderen einen gerechten Anteil erhalten oder weniger oder mehr. Interessanterweise gibt es über die Jahrzehnte hinweg kaum Veränderungen: Gut die Hälfte glaubt, den gerechten Anteil zu erhalten. Nur fünf bis acht Prozent finden, dass sie viel zu wenig bekommen, etwa ebenso viele halten ihren Anteil für zu hoch. Rund 30 Prozent fühlen sich leicht benachteiligt. Diese Ergebnisse sind ungeheuer stabil.

Trotzdem erleben wir doch eine Polarisierung in der Gesellschaft. Hat die mit dem Streitpunkt der gerechten Verteilung gar nichts zu tun?

Tatsächlich scheint es keinen starken Zusammenhang zu geben. Die neuen Polarisierungstendenzen haben vor allem mit der Öffnung unserer Gesellschaft in Bezug auf Zuwanderung und alternative Lebenskonzepte zu tun.

11/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.

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