Uns fehlen überall die Arbeitskräfte – der Fluch des demografischen Wandels. Wie sieht es andernorts aus?
Die chinesische Regierung kämpft mit den Geistern, die sie vor langer Zeit rief: Die 1980 zementierte Geburtenkontrolle war eine Reaktion auf die Bevölkerungsexplosion nach 1949. Rigoros durchgesetzt wurde sie nicht, aber vor allem in Großstädten sind Einzelkinder die Regel. Aktuell wächst China zwar noch leicht, und zwei Drittel der Bevölkerung befinden sich im Erwerbsalter – ein Rekordwert. Aber der Scheitelpunkt ist erreicht, mittlerweile scheiden mehr Menschen aus dem Erwerbsleben aus als nachrücken. In Ostasien liegen die Geburtenziffern nur in den hoch entwickelten Ländern Japan, Südkorea und Singapur noch niedriger.
Das Problem: China ist noch nicht so entwickelt, dass es sich eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung zur Finanzierung der Alten leisten kann. Das Regime versucht umzusteuern und propagiert mehr Kinder, aber die Erfolge sind sehr bescheiden. Noch ist der Arbeitskräftemangel nur in den Boomregionen akut. Aber vielleicht wird China künftig nicht nur Rohstoffe, sondern auch Menschen aus Afrika benötigen, um sein Wirtschaftswachstum fortzusetzen.
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Das Land der aufgehenden Sonne verbreitet eher Untergangsstimmung: Japan steht geradezu sinnbildlich für die Probleme einer alternden Gesellschaft. Rund 30 Prozent sind über 65 Jahre alt – und haben noch 20 Jahre unproduktives Leben vor sich. Das muss finanziert werden. Allerdings nicht vom Nachwuchs: Frauen im gebärfähigen Alter bekommen im Schnitt 1,34 Kinder. Auch die Migration wird es nicht richten: Die Ausländerquote verharrt bei 0,6 Prozent, davon sind fast die Hälfte Koreaner, die eine noch niedrigere Geburtenrate aufweisen. Damit ist kein (wachsender) Staat zu machen. Der demografische Druck führt immerhin zu annähernder Vollbeschäftigung – und zu einem Digitalisierungsschub. Der ist in Japan kein Schreckgespenst, durch den Massenarbeitslosigkeit droht, sondern der einzig mögliche Weg, das System am Laufen zu halten. Die Menschen sollen die hochwertige Arbeit erledigen, den Rest übernehmen Roboter und künstliche Intelligenz – vermutlich ein Blick in unsere eigene Zukunft.
Wahrscheinlich ist Indien heute schon das bevölkerungsreichste Land der Erde – und jedes Jahr kommen 20 Millionen Menschen hinzu. Das ist eine gewaltige Herausforderung. Zwar ist Indien in den 20 Jahren bis zur Coronakrise um stolze 6,5 Prozent pro Jahr gewachsen, doch Forscher haben ausgerechnet, dass sieben Prozent Wirtschaftswachstum in Indien weniger als ein Prozent zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Das Problem: Doppelt so viele junge Menschen drängen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt.
Die immer noch abgeschottete Wirtschaft, die lähmende Bürokratie und zum Teil sklerotische Unternehmensstrukturen verhindern ein Jobwunder. Stattdessen wollen viele zum Staat: Vor wenigen Jahren kamen auf 90 000 neu geschaffene Stellen bei der Eisenbahn sage und schreibe 28 Millionen Bewerbungen. Europa sollte in Indien eigentlich reichlich Arbeitskräfte finden können, denn die Privatwirtschaft hält auch für viele Hochqualifizierte wenig Perspektiven bereit: Um eine von 62 Positionen als Laufbursche bei der Polizei bewarben sich 2018 allein 3700 promovierte Hochschulabsolventen.
Eine Arbeitslosenquote von 0,7 Prozent – diese Traumzahl vermeldet die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) für das westafrikanische Niger, das vor allem aus Wüste und Savanne besteht. Sind Arbeitskräfte wirklich so knapp? Das ist kaum vorstellbar: Niger wird von den Vereinten Nationen beim Index der menschlichen Entwicklung aktuell auf dem letzten Platz geführt. Mit fast sieben Kindern ist die Geburtenquote die höchste in der Welt. Zwischen 2002 und 2020 hat sich die Bevölkerung verdoppelt, die Hälfte ist unter 16 Jahren alt.
Des Rätsels Lösung: Drei Viertel der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft. Das Statistische Bundesamt weist mehr als 95 Prozent Selbstständige aus, der informelle Sektor dominiert. Niger wird nicht mit Arbeitskräftemangel kämpfen, sondern mit der gewaltigen Herausforderung, jedes Jahr weitere Hunderttausende zu ernähren. Die personellen Ressourcen sind also enorm, leider aber auch die Hürden, sie produktiv in Zusammenarbeit mit den schrumpfenden Gesellschaften einzusetzen: Niger mangelt es sowohl an einem adäquaten Bildungssystem als auch an der notwendigen Infrastruktur wie zum Beispiel professionell organisierten Unternehmen.
Die Vereinigten Staaten werden gern als Weltmacht im Abstieg beschrieben. Schaut man auf den Aufstiegswillen Chinas und die isolationistischen Tendenzen der älteren weißen Bevölkerung, ist das verständlich. Man kann die Geschichte aber auch ganz anders lesen: Während China den Zenit der Erwerbstätigen gerade überschreitet, wächst das Potenzial der USA ebenso unaufhörlich wie die Bevölkerung. Dabei liegt die Geburtenrate nur leicht über der deutschen, trotzdem kommen in den USA pro Einwohner 50 Prozent mehr Kinder zur Welt– eine Folge der deutlich jüngeren Bevölkerung.
Zusätzliche Arbeitskräfte spült die Immigration ins Land: Jedes Jahr wandern rund eine Million Menschen in die USA ein – und das sind nur die legalen. Die Zuwanderung erfolgt zu einem geringen Teil aus humanitären Gründen, für die Ausstellung der begehrten Greencard spielen auch ökonomische Erwägungen eine Rolle. Studien zeigen, dass Immigranten in den USA mobiler sind und den technologischen Fortschritt treiben. Solange Amerika attraktiv für High Potentials bleibt und sich offen für leistungsbereite Migranten zeigt, muss das Land trotz einer alternden Bevölkerung keinen Arbeitskräftemangel fürchten.
11/2022
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.