Viele denken beim Thema Nachhaltigkeit zuerst an die Umweltaspekte. Doch neue Gesetze zu den Lieferketten betonen stark die sozialen Aspekte. Lavinia Bauerochse von der Deutschen Bank spricht im Interview über Chancen und Entwicklungen im sozialen Bereich.
Frau Bauerochse, wenn es um Nachhaltigkeit, um ESG-Themen geht, stehen fast immer Klimawandel und Umweltschutz im Mittelpunkt. Doch der Gesetzgeber hat nicht zuletzt mit dem Lieferkettengesetz auch die sozialen Aspekte betont. Wie relevant ist das S in ESG für Unternehmen derzeit?
Lavinia Bauerochse: Tatsächlich standen in den vergangenen Jahren für viele Unternehmen in Europa vor allem umweltbezogene Themen im Mittelpunkt ihrer Nachhaltigkeitsaktivitäten. Doch inzwischen rückt auch das S stärker in den Fokus – also die sozialen Nachhaltigkeitsthemen. Diese Entwicklung wird durch ein verändertes gesellschaftliches Sentiment und entsprechendes Konsumentenverhalten getrieben. Kunden fordern von Unternehmen die Einhaltung sozialer Standards. Regulatorische Initiativen wie das Lieferkettengesetz sind ein weiterer entscheidender Treiber.
„Ab Juli 2022 wird die Deutsche Bank zum Beispiel ihre eigenen Lieferanten um die Vorlage einer Nachhaltigkeitsbewertung bei neuen bzw. bei der Verlängerung von Verträgen über einem gewissen Vertragswert bitten.“
Lavinia Bauerochse, Deutsche Bank
Lavinia Bauerochse ist weltweit verantwortlich für den Bereich ESG in der Unternehmensbank der Deutschen Bank.
Wie macht sich das konkret bemerkbar?
In Deutschland ist mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), wie das Lieferkettengesetz vollständig heißt, bereits ein Gesetz etabliert. Betriebe mit mehr als 3.000 Mitarbeitern müssen es schon ab dem kommenden Jahr, Betriebe mit mehr als 1.000 Mitarbeitern ab 2024 erfüllen. Das deutsche Gesetz reguliert unter anderem Sorgfaltspflichten mit Blick auf die Menschenrechte, die die betroffenen Unternehmen für ihre Lieferkette gewährleisten müssen. Nun hat auch die EU-Kommission im Februar dieses Jahres einen eigenen Vorschlag vorgelegt, das sogenannte EU-Lieferkettengesetz. Das verpflichtet zum Beispiel Unternehmen, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt durch ihre eigene Geschäftstätigkeit oder ihre Wertschöpfungskette zu ermitteln und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Der EU-Vorschlag geht also noch einmal über das bestehende deutsche Gesetz hinaus.
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Sind soziale Themen damit vor allem für Unternehmen mit internationalen Lieferketten relevant?
Das Lieferkettengesetz ist insbesondere für Branchen mit komplexen Lieferketten oder Zulieferern aus Ländern mit niedrigen Sozialstandards relevant. Oft sind es Unternehmen aus dem Textilbereich, aus der Konsumgüterherstellung oder der Health-Care-Industrie, bei denen Teile der Lieferkette in Entwicklungs- und Schwellenländern liegen. Aber soziale Themen sind für alle Branchen relevant – und entsprechend befasst sich die EU-Kommission auch damit.
Sie sprechen über das Thema EU-Taxonomie …
Für Umweltbelange gibt es bereits eine Taxonomie. Mit einer „Social Taxonomy“ wird die EU-Kommission nun einen ähnlichen Rechtsrahmen für soziale Belange schaffen. Bei der Social Taxonomy geht es darum, sozial nachhaltige Aktivitäten für Investoren und andere Interessengruppen zu definieren.
Zu den anderen Interessengruppen gehören auch Kreditgeber wie die Banken. Wie relevant ist das S für die Deutsche Bank?
Als Deutsche Bank haben wir ein Rahmenwerk, in dem wir nicht nur Umwelt-, sondern auch Sozialkriterien definieren. Damit stellen wir sicher, dass wir unsere ökologische und soziale Sorgfaltspflicht gewährleisten, und haben entsprechend auch Ausschlusskriterien definiert. Maßstab waren hierbei internationale Standards und Prinzipien wie beispielsweise die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Ab Juli 2022 wird die Deutsche Bank zum Beispiel ihre eigenen Lieferanten um die Vorlage einer Nachhaltigkeitsbewertung bei neuen bzw. bei der Verlängerung von Verträgen über einem gewissen Vertragswert bitten. Die Nachhaltigkeitsbewertung muss durch eine renommierte Ratingagentur mit entsprechender Kompetenz erstellt worden sein. Insgesamt sechs Anbieter stehen dabei zur Auswahl. Aber das ist nur der erste Schritt. Ab Anfang 2023 reicht die Nachhaltigkeitsbewertung allein nicht aus. Neuaufträge ab einer Betragsgrenze werden dann nur noch an Anbieter mit einer ausreichend guten Nachhaltigkeitsbewertung vergeben.
Und wie sieht es bei Ihren Kunden aus?
Das Thema soziale Standards in Lieferketten steht bei vielen Kunden aus den erwähnten Gründen im Fokus. Hier unterstützen wir sowohl mit unserer Beratungsexpertise als auch mit nachhaltigen Finanzierungsprogrammen für Lieferketten, auch als „Sustainability-linked Supply Chain Finance“ bezeichnet. Darüber hinaus sind aber auch andere Aspekte für unsere Kunden hochrelevant, die man ebenfalls unter dem „Social“-Begriff fassen kann, zum Beispiel Produktsicherheit und Datenschutz.
Es gibt klare Vorgaben von der Politik oder Erwartungen von Investoren und anderen Finanziers. Gibt es darüber hinaus Gründe, auch ohne externe Vorgaben als Unternehmen hohe Sozialstandards zu wahren?
Sehr hohe Sozialstandards schaffen Vertrauen in ein Unternehmen und sind daher eine Chance, sich gegenüber Wettbewerbern abzusetzen. Sozial verantwortliches Handeln ist heute eine klare Erwartungshaltung der Konsumenten und Mitarbeiter an Unternehmen, das gilt insbesondere im B2C-Segment. Im „War for Talent“, den es ja gerade um Fach- und Führungskräfte gibt, haben Unternehmen mit herausragenden Sozialleistungen und einem bemerkenswerten sozialen Engagement ebenfalls Vorteile gegenüber anderen Arbeitgebern.
Wie geht es mit dem S weiter? Welche Trends sehen Sie in den kommenden Jahren auf uns zukommen?
Das Thema Lieferketten wird uns weiter begleiten. In den nächsten Jahren wird sich der Fokus auf sozial verantwortliche Lieferketten noch verstärken. Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Entwicklungen werden Abhängigkeiten in Lieferketten neu bewertet werden müssen. Gerade wo eine Diversifizierung von Lieferketten jetzt erfolgt, sollten soziale Kriterien direkt mit in die Betrachtung einfließen. Des Weiteren wird für uns in Mitteleuropa das Thema Wohnraum immer wichtiger. Vor Jahrzehnten waren Betriebswohnungen für die eigene Belegschaft ein weitverbreitetes Angebot, mit dem Unternehmen Arbeitnehmer für sich gewonnen haben. In den vergangenen Jahren ist Wohnen deutlich teurer geworden, gerade in Ballungsräumen. Mitarbeiterwohnungen können ein attraktives Instrument für Unternehmen werden, um Fachkräfte zu gewinnen. In den USA haben wir bereits in den vergangenen Jahren gesehen, wie Unternehmen – teils mit staatlichen Subventionen – soziale Wohnungsprogramme wiederbelebt haben. Europa kann jetzt aufholen.
06/2022
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.