Ein Lob der Subtraktion

Menschen fügen lieber etwas hinzu, als etwas wegzulassen. Dabei läge im Weniger oft die bessere Lösung. Trauen wir uns. In Zukunft müssen wir das sowieso.

Eine kleine und schiefe "Brücke" aus Lego. Die Linke Säule hat einen Baustein weniger als die Rechte.

Wie hätten Sie Stabilität in die Brücke gebracht? Einen Stein hinzugefügt? Einen weggenommen? Foto: Stefanie Wieck

Antoine de Saint-Exupéry soll gesagt haben: „Ein Text ist nicht dann vollkommen, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern nichts mehr weglassen kann.“ Doch in der Praxis neigt der Mensch bei der Problemlösung dazu, hinzuzufügen statt wegzulassen. Das hat zumindest eine Forschergruppe um Gabrielle Adams per Experiment herausgefunden: Damit ein Lego-Dach stabiler wird, haben die meisten Probanden mehrere Steine hinzugefügt, obwohl nur ein Stein weniger genauso effektiv gewesen wäre. In zahlreichen anderen Experimenten gab es die gleiche Tendenz: Eine Mehrheit fügt hinzu, obwohl Weglassen mindestens ebenso gut gewesen wäre. Offenbar ist unsere Heuristik, die es uns ermöglicht, auch mit wenig Wissen und knapper Zeit eine praktikable Lösung zu finden, auf Addition ausgelegt.

In der Praxis gibt es reichlich Anschauungsmaterial für diese Neigung, angefangen bei der Steuergesetzgebung. Aber auch technische Geräte, Verträge oder Geschäftsmodelle zeigen diese Tendenz: Weil die bisherige Lösung noch nicht als ausreichend angesehen wird, kommen zahllose Erweiterungen und Ergänzungen hinzu. Immer mehr Funktionen und Knöpfe, Paragrafen und Ausnahmeregelungen. Lang vergangen sind die Zeiten, als BMW sich auf die 3er-, 5er- und 7er-Baureihen beschränkte oder es stets nur ein iPhone-Modell statt gleich vier Varianten gab.

Mehr = Fortschritt

Die Gründe für die ewige Addition liegen auf der Hand: Das Mehr ist das offensichtlichste Zeichen für Fortschritt. Darum werden Autos größer und stärker, das Speiseangebot breiter, Betriebssysteme mit zusätzlichen Funktionen aufgeladen, muss die Unternehmensbilanz (zumindest unterm Strich) wachsen. Gewohntes aufzugeben und wegzulassen führt zudem zu Widerstand mindestens all derer, die im Neuen nicht gleich einen Vorteil erkennen können und Gewohntes vermissen würden. Die Addition ist der einfachste Weg, es jedem recht zu machen und niemanden zu verprellen. Darum werden selbst abseitige Vorstellungen und Wünsche bedient. Das schier unbegrenzte Internet macht es uns vor: Für alles ist Platz.

Apple hat es mit Verzicht an die Weltspitze gebracht.

Das Problem ist nur, dass dem Immer mehr natürliche Grenzen gesetzt sind. Der „Earth Overshoot Day“ wurde in diesem Jahr bereits am 29. Juli erreicht: Es hat nicht einmal sieben Monate gedauert, mehr Ressourcen zu verbrauchen, als die Erde in einem Jahr erneuern kann. Irgendwann sind nicht nur die Ressourcen erschöpft, auch die Komplexität überfordert uns. Noch hilft uns wachsende Rechen- und Speicherkapazität, die steigende Komplexität im Zaum zu halten. Und Innovation kann Ressourcengrenzen verschieben. Aber klar ist: Dauerhaft geht es so nicht weiter. Die Grenzen des Wachstums liegen später als im legendären Club-of-Rome-Bericht von 1972 skizziert; sie können verschoben, aber nicht aufgehoben werden.

Ein Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft steht bevor. Auch wenn Technik und Transfergeld helfen werden, den Transformationsschmerz zu lindern, wird es letztlich auf ein Weniger hinauslaufen müssen. Nichts schont Klima und Ressourcen mehr als das Auto, das gar nicht erst gebaut wird. Wer diese Logik akzeptiert, wird darin Chancen für sich entdecken und nutzen können. Die Untersuchung von Adams & Co. hat gezeigt: Wenn die Studienteilnehmer explizite Anreize erhielten, etwas wegzulassen, änderte sich ihr Verhalten.

Der Charme des Weniger

Der globale Hype um die japanische Aufräumberaterin Marie Kondo, die zum materiellen Weniger ermutigt, zeigt: Offenbar gibt es eine wachsende Sehnsucht nach Reduktion. Mancher hat die persönlichen Grenzen schon erreicht. Auch Unternehmen müssen nicht gleich auf Wachstum verzichten, aber sicherlich die Maßstäbe Richtung qualitatives Wachstum verschieben. Apple hat es dank Verzicht (und ein paar weiterer Zutaten) an die Weltspitze gebracht: Es war der iPod, der zugunsten eines zentralen Drehrads radikal auf zahlreiche Knöpfe verzichtete, und es war das iPhone, das als erstes Handy gleich ganz ohne Tastatur auskam. Heute ist Apple nicht mehr so radikal im Weglassen, aber immerhin entfielen erst die jedem Produkt beigelegten Kabelkopfhörer, dann die Ladegeräte. Das spart Ressourcen, Kosten, Müll und verbessert die Marge der Amerikaner. Andere Hersteller setzen auf Langlebigkeit, ihr Schaden ist es nicht. Die Miele-Maschine kostet anfangs mehr. Doch weil sie auch noch hält, während bei der Konkurrenz das zweite Modell hergestellt und verkauft werden muss, rechnet es sich am Ende.

Aufräum-Bestseller-Autorin Marie Kondo

„Does it bring you joy?“ sollte man sich bei jedem Besitz fragen. Und den Gegenstand nur behalten, wenn die Frage bejaht wird. Das empfiehlt die Japanerin Marie Kondo. Mit ihren Aufräum-Bestsellern und der Netflix-Serie erreicht sie weltweit Millionen. Foto: picture alliance / AP Images

Weglassen per se reicht natürlich nicht. Schon heute ist zu beobachten, dass Menschen dazu neigen, vor allem Unbequemes auszublenden, wegzulassen. Das Richtige wegzulassen erfordert einen ruhigen, klugen Blick auf das Wesentliche und den Mut, diesen Weg auch zu gehen. Die Adams-Experimente haben gezeigt, dass die optimale Entscheidung leichter fällt, wenn die kognitive Last begrenzt wird – also sich Entscheider ganz auf die Frage, was das Richtige ist, konzentrieren können. Auch hier gilt: Weniger ist am Ende mehr.

02/2022
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.