„Künstliche Intelligenz wird uns keine Entscheidungen abnehmen“

Die Digitalisierung verändert unsere Arbeit, aber macht sie selten produktiver, sagt die Soziologin Sabine Pfeiffer. Ein Gespräch über den Corona-Digitalisierungsschub, die Automatisierung und warum uns Technologie so häufig enttäuscht.

Sabine Pfeiffer

Foto: FAU

Frau Pfeiffer, Sie beschäftigen sich schon seit Jahren damit, wie sich Technologie auf unsere Arbeitswelt auswirkt. Wird der Digitalisierungsschub der Coronazeit unsere Arbeit nachhaltig verändern?

Welcher Digitalisierungsschub? Bäcker, Krankenschwester, Pförtner, Internist haben ihre Arbeit nicht mehr „digitalisiert“. Viele Beschäftigte können nicht ins Homeoffice, weil sie von dort die Maschine oder das Krankenbett nicht erreichen können. Und selbst die, die jetzt im Homeoffice arbeiten, sitzen vorm Rechner genauso wie vorher im Büro. Einige arbeiten mehr in der Cloud oder mit Kollaborationstools, aber eigentlich hat sich doch nur unsere Kommunikation verändert: Videokonferenzen statt persönlicher Treffen. Das ist kein Schub.

Aber viele Angestellte und ihre Vorgesetzten haben erlebt, dass Digitalisierung weniger Probleme verursacht als befürchtet. Das könnte doch auch die Berührungsängste gegenüber anderen Digitallösungen abbauen und die digitale Transformation deutscher Unternehmen beschleunigen.

Unsere Forschung bestätigt die Angstthese nicht. Die Probleme liegen ganz woanders: Die Prozesse in unserer modernen Arbeitswelt sind so global, so arbeitsteilig, so kurzen Innovationszyklen unterworfen, dass sie nur sehr schwierig angemessen ins Digitale zu übertragen sind. Natürlich gibt es unterschiedliche Lösungen, aber die sind schwer zu verbinden. An einer Stelle im Unternehmen brauche ich die Daten genau so, wie sie SAP mir aufbereitet. Und an der nächsten Stelle brauche ich sie vollkommen anders aufbereitet, um produktiv zu sein. Es ist sehr schwierig, digitale Lösungen zu finden, die wirklich die Produktivität verbessern. IT kann uns helfen, der Komplexität Herr zu werden – und sie erhöht sie doch zugleich auch.

"Es ist sehr schwierig, digitale Lösungen zu finden, die wirklich die Produktivität verbessern."

Das klingt sehr negativ. Technologien wie Industrie 4.0 eröffnen doch ganz neue Möglichkeiten.

Industrie 4.0 ist das große Versprechen der Vernetzung von allem. Nicht nur intern von Maschine zu Maschine, sondern über Wertschöpfungsketten hinweg bis zum Kunden, der dann ein ganz personalisiertes Produkt per Knopfdruck ordern kann. So die Vision. Mal abgesehen davon, ob es wirklich so viel Bedarf an dieser Personalisierung gibt: Vernetzung allein hebt nicht die Produktivität. Wir reden nun seit fast zehn Jahren von Industrie 4.0. Aber außerhalb von Modellfabriken ist wenig umgesetzt. Nicht wegen Berührungsängsten, sondern weil Unternehmen vernünftigerweise dann investieren, wenn sich das erkennbar und planbar rechnet. Und das ist bei vielen Digitalisierungstechnologien weiterhin die große Leerstelle.

Aber warum geben wir nicht zumindest solche Digitallösungen auf, die offenbar nicht funktionieren?

Dafür gibt es viele Gründe. Man hat schon viel investiert. Man muss einem Standard folgen, weil man sonst in Märkte nicht mehr reinkommt. Man hofft auf Innovationsschübe, vielleicht nicht heute, aber morgen. Viele Digitalisierungslösungen sind einfach nicht gut gemacht und heben die Potenziale nicht, die sie versprechen (und die möglich wären). Oder sie sind am grünen Tisch entwickelt und kommen im Betrieb nicht an. Nehmen Sie das Beispiel kollaborative Robotik: Mensch und Maschine arbeiten Hand in Hand, das ist die Idee. Diese Roboter sind noch nicht einmal sehr teuer. Doch in den meisten Unternehmen mangelt es an konkreten Anwendungen, wo sich diese direkte Kollaboration auch ökonomisch rechnet.

Kurzporträt Sabine Pfeiffer

Sabine Pfeiffer ist Professorin für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen–Nürnberg. Die Arbeitssoziologin forscht zum Wandel von Technik und Arbeit mit den aktuellen Schwerpunkten Industrie 4.0 und digitale Transformation. Sie ist unter anderem Mitglied im Forschungsbeirat der Plattform Industrie 4.0.

Die Entscheider in den Unternehmen wenden sich ernüchtert ab …

Nein, das tun sie nicht. Natürlich haben alle Angst, den Zug zu verpassen. Oft richten sie ihre ganze Hoffnung auf das nächste Thema: künstliche Intelligenz. Das eigentliche Problem ist die immer weiterwachsende Komplexität. Da klingt es vielversprechend, einfach den lernenden Algorithmus auf die vielen Unternehmensdaten zu schmeißen, und hinten purzeln die richtigen Entscheidungen und die lukrativen Geschäftsmodelle raus. Das ist leider eine völlige Überschätzung der KI. Es ist naiv zu glauben, KI werde uns Entscheidungen abnehmen. KI ist in den meisten Fällen einfach anspruchsvolle Statistik. Das kann ein hilfreiches Tool sein – ist aber voraussetzungsvoll. Ausprobieren und damit Erfahrungen sammeln, kann ich nur empfehlen. Denn nur wer die Grenzen der KI versteht, wird sie sinnvoll nutzen können. Aber naive Gläubigkeit in die Allmacht der Algorithmen ist fehl am Platz. Es gibt viele Schwächen und Risiken: Datenrauschen, blinde Flecke, die Aufwände der Datenaufbereitung – und am Ende muss das Ergebnis doch der Mensch beurteilen, der den Kontext kennt.

"Nur wer die Grenzen der KI versteht, wird sie sinnvoll nutzen können."

Dabei liest man immer wieder, dass ein Großteil der menschlichen Tätigkeiten obsolet wird.

Solchen Aussagen begegne ich skeptisch, denn bei genauer Betrachtung zeigt sich: Angebliche Routinearbeiten sind dann doch ziemlich komplex. Tätigkeiten wandeln sich. Das haben sie aber immer getan. Am Ende wird jedes Unternehmen für sich entscheiden müssen, wie weit es das Thema Digitalisierung treibt. Es wird nicht den einen großen Trend geben. Etwa, dass jetzt die Produktion zurück nach Deutschland kommt, weil die Automatisierung noch günstiger ist als manuelle Arbeit in Billiglohnländern. Das kann für manche Produkte stimmen und für andere nicht. Standortentscheidungen sind vielfältig und haben längst nicht nur mit Lohn- und Automatisierungsfragen zu tun. Wir sind eine komplexe Volkswirtschaft, wir produzieren komplexe und innovative Produkte mit qualifizierten Beschäftigten. Einzelunternehmerische Entscheidungen sind so unterschiedlich wie Branchen und Unternehmen. Den einen Trend, dem alle in die gleiche Richtung folgen, wird es nicht geben.

01/2021
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