Messen wir die Staatsfinanzen falsch?

Viele Ökonomen und Politiker beurteilen die Stabilität der Staatsfinanzen noch immer anhand der Maastricht-Kriterien. Aber ist der Schuldenstand zum BIP überhaupt noch die richtige Kennzahl? Immer mehr Ökonomen meinen, man sollte Staatsschulden ähnlich betrachten wie Unternehmensschulden.

Messen wir die Staatsfinanzen falsch?

Die 60-Prozent-Grenze für die Staatsverschuldung in der EU ist untrennbar mit dem Namen Maastricht verknüpft. Doch die Lehre der praxisnahen Universität der Stadt könnte dieses Dogma bald als alte Schule abstempeln. Foto: ANP / Alamy Stock Photo

An den Märkten wird hinter vorgehaltener Hand so gut wie immer über die potenziell nächsten Krisenherde im Bereich der Staatsschulden geraunt. Kandidaten dafür gibt es genug. Japan? Mit über 250 Prozent des BIP verschuldet. Die USA? Fahren Haushaltsdefizite von knapp sieben Prozent ein – in einer Zeit, in der die Wirtschaft brummt. Frankreich? Kommt von seinem Fünf-Prozent-Defizit einfach nicht herunter und kämpft jetzt zusätzlich mit instabilen politischen Verhältnissen. Und UK? Den Briten steckt immer noch der Schock des „Truss-Crashs“ im Nacken, als die ebenso aggressiven wie unausgegorenen fiskalpolitischen Pläne der Kurzzeit-Premierministerin zu Panikverkäufen bei britischen Staatsanleihen führten.

Doch abgesehen von den hohen und fast überall weiterwachsenden Schuldenbergen gehört zur Wahrheit auch: In all diesen Ländern liegen die Renditen der Staatsanleihen erheblich unter früher üblichen Niveaus. Offensichtlich schauen die Investoren am Kapitalmarkt durch die wachsenden Schuldenstände und die hohen Haushaltsdefizite hindurch, was wiederum der Tragfähigkeit der Staatsfinanzen zuträglich ist.

Tatsächlich gibt es inzwischen Alternativen zu den gängigen Kennzahlen, die den Fokus auf Defizit und Schuldenquote legen. Sie zeichnen ein anderes, positiveres Bild von der Fähigkeit der Staaten, ihre Schulden zu bedienen und auslaufende Staatsanleihen bei Fälligkeit in neue Papiere weiterzurollen. Diese Kennzahlen folgen der Logik der Unternehmensanleihenmärkte: Sie fokussieren den Zinsdienst im Vergleich zu dem Cashflow eines Landes, seinem BIP.

Olaf Schlotmann, Ökonom an der Ostfalia-Hochschule und früher als Investmentbanker im Kapitalmarktgeschäft großer Banken tätig, hält diese Sichtweise für zeitgemäßer: „Lawrence Summers und Jason Furman haben 2020 in einem hochinteressanten Papier die Frage aufgeworfen, was Staatsschulden eigentlich kosten. Das ist genau die richtige Art, die Stabilität von Staatsfinanzen zu analysieren. Und der Markt für Unternehmensanleihen ist da ein gutes Vorbild.“ Dort ist die sogenannte Debt Service Coverage eines Unternehmens eine wichtige Kennzahl.

US-Finanzministerin entspannt

Unter Volkswirten beginnt sich im Bereich der Staatsschuldenanalyse vor allem eine Formel zu verbreiten. Diese setzt die jährlichen Zinsausgaben eines Staates in Relation zu dessen BIP und reduziert diese Quote anschließend um die aktuelle Inflationsrate. Beispiel: Ein Staat, der bei einer Schuldenquote von 100 Prozent „brutto“ drei Prozent seines BIPs für den Schuldendienst aufwenden muss und eine Inflationsrate von zwei Prozent verzeichnet, käme bei den „bereinigten“ Zinskosten relativ zum BIP auf einen Wert von einem Prozent.

„Sich heute noch auf die 60-Prozent-Grenze von Maastricht zu kaprizieren ist so, als würden wir die Luftqualität in unseren Städten noch an den Maßstäben der frühen Neunziger messen.“

Olaf Schlotmann
Ostfalia-Hochschule


Dies ist keine Fantasierechnung, sondern kommt dem relativ nahe, was die Analyse vieler Einzelstaaten in der jüngeren Vergangenheit ergeben hat. Mehr noch: Während die Verschuldungsquoten in vielen Ländern seit Jahrzehnten steigen und steigen, liefert die Zinsbetrachtung vielerorts fallende Kurven (siehe Grafik Seite 26). Selbst in stark verschuldeten Staaten mit hohem Haushaltsdefizit wie Japan oder Italien haben die seit Jahrzehnten rückläufigen Zins- und Inflationsraten dazu geführt, dass bei den inflationsadjustierten Zinsbelastungen zwei Prozent des BIP oder weniger zu Buche stehen. Der scharfe Zinsanstieg im vergangenen Jahr lässt diese Kurven zwar wieder steigen – aber von einem niedrigen Niveau aus.
So ist Schlotmann nicht überrascht, dass US-Finanzministerin Janet Yellen – die zuvor Chefin der Notenbank Fed gewesen ist – dieser in Mode kommenden Kennzahl schon eine gewisse offizielle Legitimation verliehen hat, indem sie offenbarte, dass sie im US-Finanzministerium als relevant angesehen wird. Yellen hat sogar eine Faustregel für sich abgeleitet: „Ich würde es nicht gern sehen, wenn diese Kennzahl über zwei Prozent stiege“, sagte sie kürzlich.

Um die Zahl einzuordnen: In manchen Ländern mit vergleichsweise soliden Staatsfinanzen – beispielsweise Deutschland – ist diese Kennzahl bereits seit längerer Zeit negativ, was sich so auslegen ließe, dass die Staatsfinanzen von Jahr zu Jahr tragfähiger werden – negative Realzinsen „entwerten“ die Staatsschulden gewissermaßen. Und das könnte andauern. Die EU-Kommission erwartet, dass die nominalen Zinszahlungen auf Deutschlands Staatsschulden bis zum Jahr 2030 auf 1,7 Prozent ansteigen werden. „Unterstellt man, dass die EZB ihr mittelfristiges Inflationsziel von zwei Prozent erreicht, sind die jährlichen realen Zinszahlungen im Verhältnis zum BIP durchgehend negativ“, erklärt Schlotmann.

Maastricht – ganz andere Zeit

Die Krux an dieser Art der Analyse ist ihre Unsicherheit. Auch dies zeigt sich recht anschaulich am Beispiel der USA: Während das Haushaltsbüro des Kongresses prognostiziert, dass sich die inflationsbereinigten jährlichen Zinskosten im Vergleich zum BIP in der kommenden Dekade bei 1,3 Prozent einpendeln werden, ergeben die Prognosen von Goldman Sachs für das Jahr 2034 einen Wert von 2,3 Prozent – ein enormer Unterschied. Aber selbst wer den Prognosen der regierungsnahen Schätzer misstraut und Goldman Sachs folgt, dürfte zu dem Schluss kommen, dass 2,3 Prozent keine furchteinflößende Zahl ist, die eine akute Staatsschuldenkrise erwarten ließe.

Ausgabefreudige Politiker dürften mit Wohlwollen feststellen, dass bei dieser Betrachtungsweise weniger die Höhe des Haushaltsdefizits der entscheidende Einflussfaktor für die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen ist, sondern die Höhe der realen Rendite der Staatsanleihen. Und hier wird es auch mit Bezug auf die Maastricht-Kriterien interessant. „Als diese Kriterien festgelegt wurden, lagen die Zinsen für zehnjährige Bundesanleihen bei 7,8 Prozent“, rechnet Schlotmann vor. „Die Inflationsrate lag bei knapp unter drei Prozent, was einen Realzins von ungefähr fünf Prozent ergibt.“

Die realzinsen der Staatsverschuldung sind niedrig

Das sind Zahlen, die aus heutiger Sicht wie aus einer anderen Welt erscheinen. Und in diesem Kontext – so Schlotmann – sei es auch kritisch zu sehen, dass Maastricht immer noch als Maß des Handelns in Sachen Haushaltspolitik herangezogen wird: „Man kann verstehen, warum damals bei einem derart hohen Realzins eine Schuldenquote von 60 Prozent als gefährlicher Grenzbereich wahrgenommen wurde. In den Achtzigerjahren und zu Beginn der Neunziger sah Deutschland gefährdeter aus als jetzt nach den drei großen Einschnitten Finanzkrise, Pandemie und Ukrainekrieg. Aber heute liegen die Realzinsen in den meisten Ländern der Eurozone bei weniger als einem Prozent.“ Schlotmanns Fazit: „Sich heute noch auf die 60-Prozent-Grenze von Maastricht zu kaprizieren ist so, als würden wir die Luftqualität in unseren Städten noch an den Maßstäben der frühen Neunziger messen. Dort haben wir unsere Grenzwerte über die Zeit angepasst, aber unseren Staatshaushalt steuern wir immer noch mit Blick auf eine veraltete Kennzahl. Das Ergebnis sehen wir unter anderem am Zustand unserer Infrastruktur.

Trügerische Sicherheit?

Aber wo läge ein besser zum neuen Zins- und Inflationsumfeld passender Grenzwert „Maastricht 2.0“? Darauf wissen die Volkswirte keine Antwort. Viele Ökonomen haben versucht herauszufinden, ab welchem Punkt Staatsschulden einen gefährlichen Bereich erreichen. Kenneth Rogoff zum Beispiel stellte die These auf, dass Staatsschulden ab einer Höhe von 90 bis 100 Prozent des BIP beginnen, das Wachstum zu hemmen. Empirisch feststellen lässt sich das bis heute nicht.

Die Ursache dafür liegt auch in der Trägheit, mit der sich Veränderungen der Zinsen in den Staatsfinanzen niederschlagen: Die Schuldenquote kann durchaus schnell nach oben springen, wenn in einem Jahr ein hohes Defizit erwirtschaftet wird und das BIP nicht wächst. Bei den Zinskosten dauert dies wesentlich länger, schließlich werden jedes Jahr meist nur acht bis zwölf Prozent der Staatsschulden eines Landes durch neue Anleihen refinanziert. Aus diesem Grund ergäbe sich selbst bei deutlich steigenden Zinsen ein spürbarer Anstieg der realen Zinslast erst nach einigen Jahren. Da Unternehmen weniger Bonds ausgeben als Staaten, kann es bei ihnen viel schneller gehen, vor allem dann, wenn der Zeitpunkt der Refinanzierung einer wichtigen Anleihe mitten in einen Zins-Peak fällt.

„Ich würde es nicht gern sehen, wenn die inflationsadjustierten Zinsbelastungen über zwei Prozent des BIP stiegen.“

Janet Yellen,
Ex-Fed-Chefin


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Das zweite Risiko, das sich durch eine strenge zinskostenorientierte Betrachtungsweise ergeben könnte, ist pikanter: Das ungehemmte Ausgabenverhalten eines Staates bei gleichzeitig hoher Staatsverschuldung kann dazu führen, dass die Inflation außer Kontrolle gerät – der Albtraum aller Notenbanker.

Kurioserweise würde ein solcher Kontrollverlust die zinskostenorientierte Kennzahl für eine gewisse Zeit sogar verbessern und die Staatsschulden tragfähiger erscheinen lassen als zuvor. Für die Staatsfinanzen mag das stimmen, für die Volkswirtschaft hingegen nicht: Die verheerenden Schäden, die eine starke Teuerung anrichten kann, sind bekannt.

Genau wie für Finanzchefs in Unternehmen gilt also auch für die Finanzminister von Staaten, die Höhe der Schulden und deren Kosten in ein nachhaltiges und vernünftiges Verhältnis zum Cashflow zu bringen. Die Fokussierung auf einen Aspekt allein – Schulden oder Cashflow – ist problematisch. Die Märkte scheinen den Politikern bei dieser Erkenntnis aktuell ein wenig voraus zu sein.

12/2024
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Autor: Michael Hedtstück. Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.

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