Seit Ewigkeiten heißt es, der Mittelstand müsse bei seiner Finanzierung stärker auf den Kapitalmarkt setzen. Doch weder am Eigen- noch am Fremdkapitalmarkt ist eine Mittelstandswelle zu erkennen. Und das hat seinen Grund.
Was haben Bankkredite und eine mysteriöse Seeschlange gemeinsam? Um beide rankt sich ein Mythos. Mystiker und Schaulustige glauben fest daran, dass es das Ungeheuer von Loch Ness gibt, und permanent wird nach „Nessie“ Ausschau gehalten. Doch gesehen hat sie noch keiner.
In der Bankenwelt verhält es sich ähnlich, wenn es um das Phänomen „Kreditklemme“ geht. Seit mindestens 20 Jahren wird davor gewarnt, dass Banken – auch aus Regulierungsgründen – dem Mittelstand den Kredithahn zudrehen könnten. Doch abgesehen von zwischenzeitlichen Schwankungen ist es dazu noch nicht gekommen. Dennoch wird Unternehmern aus Vorsicht schon seit Langem empfohlen, ihre Finanzierung zu diversifizieren und dafür auch den Kapitalmarkt zu nutzen.
Doch während die Kreditklemme eher ein Mythos ist, gibt es in Deutschland – klammert man die Konzerne einmal aus – eindeutig eine „Kapitalmarktklemme“. Die Entwicklungen und Zahlen hinter diesem Phänomen sind vielschichtig.
Die größten Flops in Sachen „Kapitalmarktfinanzierung für den Mittelstand“ sind schnell identifiziert: Mezzanine-Programme und Mittelstandsanleihen. Beide Projekte hatten die gleiche Grundlage. Dank schlanker Strukturen und Prozesse sollten Kapitalmarktfinanzierungen so einfach und günstig werden, dass sie sich auch bei Transaktionen von weniger als 100 Millionen Euro lohnen.
Bei den Mezzanine-Programmen bündelten Banken Mezzanine-Kredite an Unternehmen in „Pakete“, die bis zu 100 verschiedene Einzelkredite umfassten und am Kapitalmarkt verbrieft wurden. Der Boom begann in den frühen 2000er-Jahren, doch die Einschläge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 zerrütteten die Mezzanine-Programme. Eine Welle von Zahlungsausfällen der Kreditnehmer führte dazu, dass die Käufer der Mezzanine-Pakete viel Geld verloren. Danach war das Projekt tot.
Unmittelbar danach kamen die Mittelstandsanleihen auf, und auch dort häuften sich – zum Frust der Investoren – nach einem rasanten Marktstart schon bald die Ausfälle. Es gab sogar handfeste Skandale rund um Insolvenzen, die anschließend vor Gericht aufgearbeitet wurden. Namen wie Windreich, German Pellets oder KTG Agrar gingen unrühmlich in die Geschichte des hiesigen Kapitalmarkts ein.
Diese Schläge zwangen den Markt für Mittelstandsanleihen in die Knie. Es gibt ihn zwar immer noch, aber die Bilanz für 2023 sagt alles: Mit 788 Millionen Euro lag das platzierte Neuvolumen so niedrig wie seit elf Jahren nicht mehr. Gleichzeitig summierte sich das Volumen von Anleihen, die ausfielen oder restrukturiert werden mussten, auf 843 Millionen Euro. Mit Erschrecken stellte man fest: Das ist mehr als das Neuemissionsvolumen. Welches Unternehmen finanziert sich noch gern über so einen Markt, und wer sollte in solche Papiere investieren wollen?
„Der Schuldschein ist der Einstieg in den Kapitalmarkt. Der Marktzugang ist auch für kleinere Mittelständler intakt.“
Christian Sass, Deutsche Bank
Dabei wären die Anleihen eigentlich die passende Finanzierungsquelle für den klassischen Mittelstand gewesen – eine Art „Kapitalmarkt light“, maßgeschneidert für kleinere Emittenten. Mehr als die Hälfte der Emissionen entfielen 2023 auf Volumina bis zu 30 Millionen Euro, ein weiteres Drittel auf Bonds in der Größenordnung 30 bis 100 Millionen Euro.
Aus Sicht von Christian Sass, Experte für Debt Capital Markets (DCM) bei der Deutschen Bank, gibt es einen Umstand, der sowohl die Turbulenzen bei den Mini-Bonds als auch das mangelnde Interesse von seriösen Mittelständlern am öffentlichen Kapitalmarkt erklärt: die relativ hohen Einmalkosten, die durch regulatorische Vorgaben getrieben werden. Am öffentlichen Kapitalmarkt sind sie so streng und umfangreich, dass die Kosten und der Aufwand sich für Unternehmen erst ab einem signifikant dreistelligen Finanzierungsvolumen einer Kapitalmarktemission rentieren. Alternativen wie Kredite oder Schuldscheindarlehen lohnen sich meistens eher.
Eine ähnliche Bestandsaufnahme liefert ein Experte von der Eigenkapitalseite. Heiko Leopold ist Co-Head Equity Capital Markets (ECM) für die deutschsprachige Region bei der Deutschen Bank und begleitet Unternehmen bei Börsengängen (IPOs). Auch dort werde regelmäßig gefordert, zum Beispiel die Prospektanforderungen für Börsenkandidaten zu senken. Aber Investoren und Emissionsbegleiter möchten lieber an den hohen Standards festhalten.
Bei Börsengängen gibt es neben den hohen Stückkosten von Emissionen für kleine Unternehmen noch eine weitere Hürde: die schwache Handelsliquidität von „Small Cap“-Aktien. Die Schwelle, ab der die Liquidität hoch genug ist, damit auch größere Investoren ohne Kursverwerfungen zügig bei einer Aktie ein- und aussteigen könnten, taxiert Leopold auf ein Emissionsvolumen von 250 Millionen Euro. Und auch die Erarbeitung von Research – für Investoren eine wichtige Investitionsgrundlage – ist vergleichsweise teuer, wenn man diese Kosten in Relation zu den Erlösen setzt, die mit dem Aktienhandel erzielt werden können.
Vor einigen Jahren versuchte die Deutsche Börse, das Problem der geringen Handelsliquidität kleiner Aktien zu lösen, indem sie mit viel Brimborium „Scale“ schuf. Dieses spezielle Handelssegment sollte eine Art „Neuer Markt 2.0“ werden, nur in seriös. Die Idee: Ein Segment mit mehreren Dutzend Aktien, die sich in Summe gut entwickeln, lockt auch größere Investoren an, die breit gestreut in diese Unternehmen oder diesen Index investieren möchten. Auch spezielle Scale-Aktien-Fonds hätten entstehen können, und spätestens dann wäre auch die Handelsliquidität vieler Aktien gestiegen. Nur leider hob Scale nie ab, mittlerweile redet niemand mehr von diesem Projekt.
Heute spielt die Musik woanders. 2023 gab es in Deutschland nur drei IPOs: Ionos, Schott Pharma und ThyssenKrupp nucera. Das Volumen lag jeweils deutlich über der von Sass genannten kritischen Marke
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2021 war das bislang letzte Jahr, in dem es auch mehrere kleine IPOs gab. Damals regte die Aufbruchstimmung nach dem Meistern der Corona-Lockdowns den Risikoappetit der Börsianer an, Aktien von schnell wachsenden, aber noch defizitären Internet- und Techfirmen wurden hoch gehandelt. „Doch viele dieser Börsenneulinge haben anschließend eine schlechte Kursentwicklung gezeigt“, berichtet Leopold. „Seitdem verlangen die Eigenkapitalinvestoren wieder, dass Unternehmen profitabel sind und sich selbst finanzieren können.“
Mezzanine-Programme: verschwunden. Mini-Bonds: zerrüttet. Mini-IPOs: nicht existent. Ist der Kapitalmarkt für Mittelständler komplett geschlossen? Zum Glück nicht, denn es gibt Hintertürchen – eine am Eigenkapitalmarkt, eine für Fremdkapital.
ECM-Spezialist Leopold nennt in diesem Zusammenhang „Equity Private Placements“. Dabei beteiligen sich ausgewählte Investoren „privat“ und minderheitlich an mittelständischen Unternehmen, mit Paketen von fünf, zehn oder 20 Prozent, manchmal sogar mehr. „Als Investoren treten zum Beispiel Family Offices und Staatsfonds auf“, erklärt Leopold. „Das ist ein europaweiter Markt, der international relevant ist.“ Drehscheibe ist London. Aber das bedeutet natürlich auch: gegebenenfalls ausländisches Recht, englische Sprache und potenzielle Geschäftspartner mit einem anderen kulturellen Hintergrund – nicht für jeden deutschen Mittelständler das Ziel aller Träume.
Auf Fremdkapitalseite liegt die Lösung näher: der Schuldscheinmarkt. DCM-Experte Sass gibt eine ermutigende Einschätzung ab: „Der Schuldschein ist der Einstieg in den Kapitalmarkt. Der Marktzugang ist auch für kleinere Mittelständler intakt.“
Dieser Markt ist gesund, erfolgreich und etabliert – eine robuste, gut geölte Finanzierungsmaschine. Selbst die Corona- und Energiepreiskrisen sorgten unter den Schuldscheinemittenten nicht für eine Flut an Problemfällen. Mit rund 23 Milliarden Euro Neuemissionsvolumen im Jahr 2023 ist der Schuldscheinmarkt außerdem um ein Vielfaches größer als der Mini-Bond-Markt. Er wird von deutschen Emittenten dominiert, die in manchen Jahren für mehr als zwei Drittel der Emissionen standen. Und auch der Großteil der Investoren besteht aus deutschen Banken. Wenngleich es von Investoren gern gesehen wird, benötigen Emittenten nicht zwingend ein externes Rating. Behüteter kann man sich einen Kapitalmarkt für hiesige Mittelständler kaum vorstellen.
„Viele Börsenneulinge von 2021 haben anschließend eine schlechte Kursentwicklung gezeigt.“
Heiko Leopold, Deutsche Bank
Doch einen Haken hat auch der Schuldschein: Es ist ein institutioneller Markt, Emissionen unter 200 Millionen Euro stehen gerade mal für ein Viertel des Geschäfts. Die Musik spielt bei Schuldscheinen zwischen 200 und 500 Millionen Euro, und dort tummeln sich Konzerne wie die Betreiber der Flughäfen in Frankfurt und München, der Autovermieter Sixt oder der Gabelstaplerhersteller Kion – nicht gerade der klassische Mittelstand. Sogar bei Schuldscheinen nahe oder unter 100 Millionen Euro war die Liste der Emittenten 2022 und 2023 gespickt mit Konzernen, die ihrer Unternehmensfinanzierung einen kleinen Schuldschein beimischen, zum Beispiel Rheinmetall, SAF-Holland oder Ottobock.
„Aber nichtsdestotrotz sieht man auch jedes Jahr einige Mittelständler am Schuldscheinmarkt, die neu am Kapitalmarkt sind und deren Namen man landläufig nicht kennt“, berichtet Sebastian Zank, der als Analyst für die Ratingagentur Scope den Schuldscheinmarkt begleitet.
Die notwendige Mindestbonität für kleine Schuldscheinemittenten taxiert Zank auf „ein gutes Doppel-B-Rating“. Schwächere Bonitäten würden die begleitenden Arrangeure zuverlässig aussortieren. Und die Selektionskriterien könnten sogar noch strenger werden, mehrten sich Zank zufolge zuletzt doch auch unter den Schuldscheinen Ausfälle und Beinahe-Defaults – insbesondere bei den „Mini“-Schuldscheinen.
Aber das lässt sich erklären: Viele dieser Wackelkandidaten haben einen Immobilienbezug. „Für neue Emittenten aus den Branchen Bau und Immobilien wird der Markt auf absehbare Zeit ziemlich verschlossen sein“, vermutet Zank. Für den Rest hingegen gibt er Entwarnung. „Die Spreads sind zuletzt zwar gestiegen, aber nicht in einem Ausmaß, das gefährlich ist.“ Dies zeigt: Gerade wegen seiner soliden Historie reagieren die Investoren am Schuldscheinmarkt auch in Krisenphasen besonnen. Allerdings heißt das auch, dass Mittelständler, denen die Banken gerade die Linien kürzen, sich schwertun dürften, im Schuldschein eine alternative Finanzierungsquelle zu finden.
Summa summarum ist nicht abzusehen, dass der breite Mittelstand den Kapitalmarkt künftig deutlich stärker nutzen wird. Aktuell ist die Bilanz bescheiden: Nicht mal eine Milliarde über Mittelstandsanleihen, ein paar Milliarden über Mittelstands-Schuldscheine – allein die mittelfristigen Unternehmenskredite liegen bei mehr als einer Viertelbillion Euro. Insgesamt haben Banken fast 1,9 Billionen Euro an Unternehmen und Selbstständige verliehen. Bleibt zu hoffen, dass die Kreditklemme im Mittelstand auch weiterhin ein Mythos bleibt. Der Kapitalmarkt könnte den Mittelstand nicht auffangen.
06/2024
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Autor: Michael Hedtstück. Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.