Vor 15 Jahren brach unser Finanzsystem beinahe zusammen, weil Kreditabsicherungen sich bei wenigen Häusern konzentrierten. Wo liegen die Kreditrisiken heute – und wo sollten sie liegen?
Es war die größte Rettungsaktion aller Zeiten: 150 Milliarden Dollar legten die Vereinigten Staaten auf dem Höhepunkt der Finanzkrise auf den Tisch, um den Versicherungskonzern AIG am Leben zu erhalten. „Eine AIG-Pleite hätte eine weltweite Erschütterungsdynamik ausgelöst“, sagte Finanzminister Peer Steinbrück Ende September 2008 in einem „Spiegel“-Interview. „Da haben wir alle in einen Abgrund geblickt.“
Der drittgrößte Erstversicherer der Welt hatte sich mit Kreditversicherungen verheddert und wurde brutal von der Subprime-Krise getroffen. AIG hatte – ebenso wie Lehman – über Credit Default Swaps (CDS) gewaltige Kreditrisiken abgesichert. Kernproblem waren die 78 Milliarden Dollar für verbriefte US-Immobilienfinanzierungen, von denen viele plötzlich wackelten. Dadurch verlor AIG sein exzellentes Rating und musste enorme Sicherheitszahlungen (Collaterals) leisten, die den Liquiditätsbestand weit übertrafen. Nach den Panikreaktionen auf die Lehman-Pleite war ein Untergang von AIG ein Horrorszenario. Darum blieb nach 100 Milliarden Dollar Verlust nur die Verstaatlichung.
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Am Ende machte der amerikanische Staat mit der Übernahme und dem späteren Verkauf von AIG zwar sogar einen satten Gewinn, Verbriefungen und Kreditabsicherungen über CDS waren aber gebrandmarkt. Die Finanzkrise führte zu einer deutlich stärkeren Regulierung der Finanzmärkte, wobei die Banken besonders in den Fokus gerieten. Aber der CDS- und der Verbriefungsmarkt wurden ebenfalls reformiert – auch weil niemandem bewusst gewesen war, wie viel Risiko sich bei AIG gesammelt hatte.
CREDIT DEFAULT SWAPS (CDS) FÜR EINZELRISIKEN
CDS nehmen den Kreditgeber aus dem Risiko, indem der Sicherungsgeber
den Ausfall ersetzt. Versichert werden können Anleihen von Staaten,
Finanzinstituten und Unternehmen. Kredite können nur abgesichert werden,
wenn die Schuldner auch Anleihen begeben haben.
VERBRIEFUNGEN FÜR GEBÜNDELTE RISIKEN
Verbriefungen ermöglichen es Kreditgebern, ein Bündel
aus Forderungen (von kurz laufenden Handelsforderungen bis zum Langfristkredit) in Wertpapiere umzuwandeln und an Investoren zu veräußern. Dabei können die Forderungen als solche oder auch nur die Kreditrisiken übertragen werden.
Wo stehen wir 15 Jahre später? Ist ein Desaster wie AIG noch vorstellbar, und wo liegen heute die Ausfallrisiken? Zunächst einmal: Die Verteufelung von CDS und Verbriefungen war nicht angemessen. Zahllose Mittelständler nutzen Warenkreditversicherungen, um Ausfallrisiken aus ihrem operativen Geschäft loszuwerden. Und der Finanzmarkt kennt nun mal zwei wesentliche Wege, um Kreditrisiken auszulagern, nämlich CDS und Verbriefungen – beide haben ihren Platz.
Credit Default Swaps wurden 1994 erfunden und nach der Jahrtausendwende extrem populär: 2007 beliefen sie sich auf 62,2 Billionen Dollar –mehr als die weltweite Wirtschaftsleistung und immerhin 44 Prozent aller weltweiten Schulden. Allerdings lagen nicht wirklich 44 Prozent aller Kreditrisiken in anderen Händen. CDS waren ein beliebtes Spekulationspapier, bei dem der Käufer einer Absicherung oft selbst gar nicht der Kreditgeber war. Das kann man sich wie eine Wette vorstellen, ob ein Dritter von einem Vierten sein Geld erhält. Und weil diese Wetten oft lange Laufzeiten haben, haben die Wetteinsätze auch eigene, sich verändernde Werte und können gehandelt werden.
Eine Studie der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich von 2018 zeigt, dass der CDS-Markt nach der Finanzkrise um 85 Prozent geschrumpft ist. Vor allem aber konzentrieren sich die Absicherungen mittlerweile auf Staatsanleihen und Schuldner hoher Bonität. Das heißt: Der allergrößte Teil der tatsächlichen Ausfallrisiken wird nicht über den CDS-Markt abgesichert.
„Eine AIG-Pleite hätte eine weltweite Erschütterungsdynamik ausgelöst.“
Peer Steinbrück, Finanzminister
Vom zweiten Instrument der Kreditabsicherung machen vor allem Banken Gebrauch. Verbriefungen gelten nicht ganz zu Unrecht als Auslöser der Finanzkrise: Sie ermöglichten es, Kreditrisiken in verpackter, wenig transparenter Form an Investoren weiterzugeben, die allein auf das Rating anerkannter Agenturen vertrauten. Versicherer wie AIG wiederum sicherten die Ausfallrisiken aus diesen Kreditportfolios ab, auch ohne die Kredite zu kennen. Das Problem: Am Ende konnte niemand mehr die Risiken so richtig einschätzen. Als später Zweifel an der Bonität aufkamen, folgte auch aus Unwissenheit eine Kettenreaktion.
Aber: Verbriefungen sind Teil des Risikomanagements von Banken. Und die Auslagerung von Kreditrisiken setzt Eigenkapital frei, das für die Vergabe neuer Kredite genutzt werden kann. Der fahrlässige Umgang mit dem Finanzierungsinstrument vor der Finanzkrise ist kein Indiz für eine schlechte Idee, sondern nur für eine schlechte Umsetzung.
Anders als in den USA spielen Verbriefungen in Europa kaum mehr eine Rolle. War der europäische Verbriefungsmarkt auf dem Höhepunkt der Finanzkrise noch über 700 Milliarden Euro schwer, dümpelt er in den vergangenen Jahren bei etwa 200 Milliarden Euro. Das ist nichts, allein die Bankkredite an Unternehmen betragen in der Eurozone gut 4,7 Billionen Euro. Auch das viel größere US-amerikanische Verbriefungsvolumen ist nur auf den ersten Blick eindrucksvoll: Den größten Teil des Ausfallrisikos behalten die Banken nämlich in den Büchern.
Anders als geplant ist die Intransparenz bei den Kreditabsicherungen nicht verschwunden. Wir wissen aber, dass heute die meisten Absicherungen nicht mehr von anfälligen Spezialisten gestellt werden. Vor allem wissen wir eins: Es gibt weltweit mehr als 300 Billionen Dollar Schulden – davon transferieren die Kreditgeber nur einen winzigen Teil der Kreditrisiken über CDS und Verbriefungen.
Die Risiken aus 300 Billionen Dollar Schulden werden nur zu einem Bruchteil transferiert.
Ist das nun gut oder schlecht? Wir haben aus der Finanzkrise gelernt, dass es bei Ausfallrisiken um nicht weniger als die Stabilität unseres Finanzsystems geht. Aber: Es geht explizit nicht darum zu verhindern, dass ein einzelner Spieler an seinen Kreditrisiken erstickt – sondern darum, dass er die anderen nicht im Strudel mitreißt. Das gilt in der Finanzcommunity für vier Gruppen, die daher aus Systemsicht die Risiken tragen sollten.
In die erste Gruppe gehören die Universalversicherungen und Asset Manager, die gewaltige Anlagevolumina verwalten. Sie schlucken den Ausfall von Anleihen, Krediten und Kreditabsicherungen in ihrem diversifizierten Portfolio und schütten ihren Versicherten einfach geringere Renditen aus. Die zweite Gruppe sind die mit weltweit mehr als 1,2 Billionen US-Dollar volkswirtschaftlich schon wahrnehmbaren Kreditfonds. Sie sind mit dem Finanzsystem kaum vernetzt, Ausfälle gehen zulasten ihrer Investoren, die jeweils nur einen kleinen Teil in diese Anlageklasse investieren.
Gruppe drei sind kleinere Investoren, die über den Kapitalmarkt Kredit vor allem in Form von Anleihen zur Verfügung stellen. Das sind große und kleine Versicherungen, aber auch Pensionskassen, Stiftungen, Family Offices und weitere semi-institutionelle Anleger sowie Privatpersonen. Sie alle sind systemisch nicht relevant. Die vierte Gruppe sind die Banken. Sie sollten den Großteil der Risiken halten – zumindest diejenigen, die eine echte Kundenbeziehung pflegen. Erstens können sie Kreditrisiken am besten einschätzen. Und zweitens konzentrieren sich bei den Banken zwar die Kreditrisiken, aber kein anderer Spieler wird derart strikt überwacht – vor allem die als systemrelevant eingestuften Häuser.
Damit können wir aktuell Entwarnung geben. Wir wissen zwar nicht genau, wer die ausgelagerten Risiken hält. Aber wir wissen, dass die Kreditrisiken vor allem bei den vier aufgeführten Gruppen liegen – und damit genau dort, wo sie hingehören.
Der schleppende Transfer insbesondere hoher Kreditrisiken ist trotzdem keine gute Nachricht. Was passiert, wenn die digitale und nachhaltige Transformation der Wirtschaft die Risikotragfähigkeit der klassischen Finanzierer übersteigt? Dann brauchen wir Instrumente, die funktionieren. Wir sollten eine tragfähige Struktur nicht erst zimmern, wenn der Bedarf akut ist – das hat sich noch nie bewährt.
07/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.