Unter börsennotierten US-Techunternehmen ist es Mode geworden, Gründern trotz Minderheitsanteil eine Mehrheit an Stimmrechten zuzusichern. Das ist ungerecht, doch schadet es den Unternehmen (und den Investoren)?
Google hat es getan, Facebook auch und Pinterest und Lyft: Obwohl die Gründer-Führungsriege nach dem Börsengang keine Anteilsmehrheit mehr hält, bewahrt sie sich doch eine (faktische) Stimmenmehrheit. Möglich macht das das „Dual Class“-Aktiensystem. Während die Gründer (und andere ausgesuchte Gesellschafter) sogenannte Class-A-Aktien halten, gibt es für die breite Masse der Aktionäre Class-B-Aktien. B-Aktionäre erhalten allerdings nur eine Stimme je Anteil, während es für jede Class-A-Aktie ein Stimmenvielfaches gibt. Zehn Stimmen je Aktie sind dabei nicht ungewöhnlich.
Die A/B-Bezeichnung kann wie bei Google andersherum sein, und das Zwei-Klassen-Gesellschaftersystem ist in den USA längst nicht auf Techunternehmen beschränkt. Doch seit 2015 ist es bei ihren Aktiengesellschaften besonders populär. Jeder dritte, in manchen Jahren sogar fast jeder zweite Techbörsennovize hat das frische Geld der Aktionäre genommen, aber hält sie bei Entscheidungen an der kurzen Leine. Kontrolle und Eigentum fallen so auseinander. Ein Class-B-Aktionär hat trotz gleichem finanziellen Risiko weniger Möglichkeiten, Einfluss auf Unternehmensentscheidungen zu nehmen. Weitere Kritikpunkte: Das Class-A-Management könne sich der Rechenschaft gegenüber den weiteren Eigentümern entziehen, sollte seine Leistung nachlassen – wie es in der Vergangenheit bei etlichen prominenten Gründern mit fortschreitender Unternehmensgröße zu beobachten war.
Deutschen Aktionären sind ungleiche Aktienklassen nicht unbekannt. Während Stammaktien Stimmrechte umfassen, gilt das nicht für Vorzugsaktien. Immerhin werden die Vorzugsaktionäre mit einer höheren Dividende oder einem Vorzugsrecht im Fall einer Liquidation des Unternehmens entschädigt. Auch kann es, meist gegen einen Aufschlag, eine Umwandlung von Vorzugs- in Stammaktien geben. Doch die Vorzugsaktien sind weniger beliebt als die Stimmrechtsaktien. Aktienkurse von Vorzugsaktien liegen durchschnittlich um 26 Prozent unter denen der Stammaktien desselben Unternehmens.
In anderen Ländern mit einem Zwei-Klassen-Aktiensystem lagen die Abschläge zumindest vor einigen Jahren oft deutlich höher. Eine Untersuchung von 1987 bis 1990 zeigte für italienische Vorzugsaktien einen Kursabschlag von mehr als 80 Prozent; in Frankreich von 1986 bis 1996 von rund 50 Prozent. Hinzu kommt, dass die bei der Mitsprache benachteiligten Aktien häufig weniger liquide und damit anfälliger für Kurssprünge sind.
Aktienkurse von Vorzugsaktien liegen durchschnittlich um 26 Prozent unter denen der Stammaktien desselben Unternehmens.
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Die Motive für die unterschiedlichen Aktienklassen können sich von Staat zu Staat unterscheiden. Hierzulande sind es vor allem klassische Familienunternehmen wie BMW, Volkswagen, Henkel oder Sixt, die so ihre Entscheidungsmehrheit wahren möchten. In Italien und Frankreich sollen Aktionäre länger an ein Unternehmen gebunden werden. Darum gibt es die Möglichkeit des doppelten Stimmrechts für die Aktionäre, die zum Beispiel länger als zwei Jahre ihre Aktien halten. Auch mehrere staatsnahe Unternehmen haben Mehrfachstimmrechte ausgegeben; damit sichert sich die öffentliche Hand einen besonderen Einfluss.
In den USA sollen die Sonderrechte vor allem bei der Skalierung helfen. Dazu benötigt das Unternehmen viel Kapital – die Gründer wollen dabei aber ihre unternehmerische Vision wahren und verhindern können, dass Investitionsvorhaben der Dividende geopfert werden. Außerdem stellen die Mehrfachstimmrechtsaktien einen Schutzwall gegen feindliche Übernahmen dar. Und da die Class-A-Aktien selten öffentlich gehandelt werden, kann das Unternehmen auf einen stabilen Aktionärskreis bauen, der auch in schwierigen Phasen treu bleibt.
Doch es gibt prominente Beispiele, die die Missbrauchsgefahr des Zwei-Klassen-Aktiensystems offenbaren. Der frühere CEO von Hollinger International, Conrad Black, kontrollierte nur 30 Prozent des Kapitals, aber 73 Prozent der Stimmen. Das nutzte er dazu, sich auf Kosten der Class-B-Aktionäre zu bereichern. Er genehmigte sich nicht nur ein sehr hohes Gehalt, sondern zahlte sich auch Beratungsgebühren und persönliche Dividenden. Der Vorstand winkte alles durch. Er war mit Günstlingen besetzt.
Auch in Staaten wie Indien, Russland oder Brasilien gibt es Beispiele für die negativen Folgen mangelnder Kontrollstrukturen durch die Gesellschafter – manche Unternehmen leiden unter ausgeprägter Selbstbereicherung im Management, andere unter dem Primat der Politik. Die Kritik an der Klassentrennung ist daher groß. Doch haben die Aktionäre finanzielle Nachteile aus der Regelung? In Einzelfällen gewiss, im Schnitt offenbar nicht. Jay R. Ritter von der Universität Florida weist für mehr als 9000 US-amerikanische IPOs seit 1980 jeweils nach drei Jahren eine bessere Performance für Dual-Class-Börsengänge aus, gemessen an Dividenden und Kursgewinnen.
Dieses Ergebnis hat auch Bestand, wenn man den Techbrancheneffekt herausrechnet: Dual-Class-Techunternehmen entwickeln sich demnach sogar deutlich besser als „Single Class“-Techunternehmen. Der Effekt zeigt sich, allerdings deutlich abgedämpft, ebenfalls beim Vergleich von Nicht-Tech-Unternehmen. Fazit: Wer beim IPO in Dual-Class-Unternehmen investiert, erhält die bessere Rendite.
Selbst wenn Ritter den Techfaktor herausgerechnet hat, könnte es allerdings auch andere Erklärungen für die Überperformance geben als die Stimmenmehrheit für Gründer. Gründer besonders attraktiver Unternehmen haben es einfacher, Dual-Class-Strukturen zu realisieren. Gemeinsam mit drei weiteren Wissenschaftlern zeigt Dhruv Aggarwal von der Yale-Universität, dass Gründer mit einem großen Angebot an Finanzierungsalternativen auch außerhalb der Börse ihre Stimmrechtsforderungen leichter durchsetzen können.
Wer beim IPO in Dual-Class-Unternehmen investiert, erhält die bessere Rendite.
Sollte sich jedoch das Kapitalangebot ausdünnen, dürfte es deutlich schwerer werden, Dual-Class-Börsengänge durchzusetzen. Dann könnte sich der heutige Performance-Vorteil der Zwei-Klassen-Aktiengesellschaften rasch ins Gegenteil wenden. Eine Analyse durch Wissenschaftler der Harvard-Universität im Jahr 2004 zeigte, dass eine Ungleichverteilung von Stimmrechten Dual-Class-Aktienunternehmen in ihrer Entwicklung hemmt – ihre Performance war vergleichsweise schlecht. Eine Erklärung der Studienautoren: Gründer, die ihre Entscheidungsvorrechte nicht verlieren wollen, sind deutlich weniger bereit, frisches Kapital aufzunehmen (und dadurch Stimmrechtsanteile aufzugeben). Sie investieren entsprechend weniger und fallen zurück.
Für deutsche Aktionäre fällt der Vergleich zwischen Vorzugs- und Stammaktien zumindest beim Kursverlauf nicht so eindeutig aus. Bei einer aktuellen Stichprobe fielen Drei- und Fünf-Jahres-Kursperformances (ohne Einberechnung möglicher Dividendenauszahlungen) mal für die Vorzüge (BMW), mal für die Stämme (VW) aus – oft lagen sie nah beieinander. Anders als in den USA erfreuen sich Vorzugsaktien bei den Unternehmen aber kaum noch Beliebtheit. Zuletzt machte die Umwandlung von Vorzugs- in Stammaktien bei Hugo Boss und Berentzen Schlagzeilen.
03/2024
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.