Faktenwissen holen wir längst aus dem Internet, mit KI lagern wir auch Einschätzungen und Ratschläge aus. Eine gute Idee? Hirnforscher Martin Korte ordnet für uns ein.
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Herr Professor Korte, erst mal keine Frage an den Wissenschaftler, sondern an den Mitbürger: Haben wir den Respekt vor dem Wissen im Kopf verloren, weil Fakten in Sekundenschnelle recherchierbar sind?
Ich glaube schon. Wir achten zu wenig darauf, was wir selbst im Kopf haben, weil wir unter der Fehlannahme leiden, unser Gehirn hätte eine Festplatte, die wir auslagern können. Wir unterschätzen, dass unser Gehirn die Welt differenzierter wahrnimmt, wenn wir viel über einen Gegenstand wissen. Das ist gerade im politischen Dialog, in der Beschäftigung mit Veränderungen oder im Umgang mit multikulturellen Herausforderungen wichtig.
Erklären Sie uns doch mal unser Gehirn. Wie bringen wir Faktenwissen in Zusammenhänge, um am Ende zu einem Urteil zu gelangen?
Unser Gehirn versucht ständig zu simulieren, was als Nächstes passiert. Das können wir nur präzise tun, wenn wir schon viel über eine Umgebung wissen und eine Situation zuverlässig einschätzen können. Gehen wir in ein europäisches Restaurant, kennen wir die Abläufe und können uns auf das Essen oder das Gespräch konzentrieren. So hilft uns das Faktenwissen bei der Einschätzung von Situationen – wir greifen immer auf Gelerntes zurück.
„Wir können als Gemeinschaft Wissen erwerben, anwenden und kulturell weitergeben. Leider geben wir den Experten immer weniger Autorität.“
Das ist eine Alltagssituation, lassen Sie uns auch über wichtige Entscheidungssituationen sprechen. Bilden wir uns nur ein, mit komplexen Themen umgehen zu können, oder können wir das wirklich?
Das können wir durchaus. Es gibt hier zwei Denkströmungen. Die eine Richtung plädiert dafür, bei komplexen Entscheidungen unserem Bauchgefühl zu vertrauen, weil das intuitive Wissen viel mehr Informationen verarbeiten kann als das bewusste Denken, das uns auf fünf bis sieben Variablen beschränkt. Die andere Richtung weist darauf hin, dass wir das intuitive Denken zwar für schnelle Entscheidungen brauchen, in der Evolution aber auch das reflexive Nachdenken entwickelt haben – aus gutem Grund. Ich glaube, wir brauchen beides.
Wenn ich selbst vor einer Entscheidung stehe und nicht genügend weiß, ist es dann legitim, auf Wissen aus dem Netz zurückzugreifen?
Es ist legitim, aber oft nicht sinnvoll. Wir sollten nicht unterschätzen, wie viel Wissen erfahrene Experten abgespeichert haben, um Situationen einschätzen zu können. Man muss nicht alles Wissen selbst im Kopf haben, wir sind eine Sozietät von Gehirnen. Wir können als Gemeinschaft Wissen erwerben, anwenden und kulturell weitergeben. Leider geben wir den Experten immer weniger Autorität, weil sich viele Menschen über das Internet informieren, ohne die Informationen einschätzen zu können. Man muss genügend wissen, um Probleme strukturieren zu können und zu wissen, wen man wozu fragen sollte.
Martin Korte ist kein Hirnforscher, der sich ins Fachchinesische verliert. Der Professor für Zelluläre Neurobiologie an der Technischen Universität Braunschweig kann anschaulich schildern, wie unser Gehirn funktioniert und wie wir unser Gedächtnis schulen. Seine leider unangenehme Kernbotschaft: „Wir merken uns Dinge, wenn der Wissenserwerb schwer ist und wir dafür etwas tun müssen.“
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Was passiert andernfalls?
Wenn wir gar nichts über ein Thema wissen, reagiert unser Gehirn leider sehr unglücklich: All unsere Vorurteile werden verstärkt, und wir nehmen nur wahr, was wir vorher schon zu wissen glaubten. Darum brauchen wir eine Grundstruktur des Wissens.
Wissen ist kein Selbstzweck. Es soll uns helfen, Aufgaben zu bewältigen, manchmal auch neue Lösungen zu entwickeln. Wie wichtig ist Wissen für Kreativität, Ideen und Innovation?
Sehr wichtig. Man hört oft anderes von Kreativtrainern: „Jetzt vergesst mal alles, was ihr über das Thema wisst, damit wir neu assoziativ denken können.“ Daran glaube ich als Hirnforscher nicht. Einstein hatte seine genialen Ideen nicht als Zwölfjähriger, sondern nachdem er schon unglaublich viel über Physik gelernt hatte. Wir brauchen Wissen, um ein Problem zu identifizieren, für das sich eine Lösung lohnt. Dann müssen wir noch mehr über das Problem wissen, um das notwendige Rüstzeug für eine Lösung mitzubringen. Und schließlich müssen wir tatsächlich auch loslassen können, um eine innovative Idee zu entwickeln. Wissen und Kreativität sind keine Feinde, sie arbeiten Hand in Hand.
Verstanden, eine Nachfrage: Einstein war nicht zwölf, aber er war auch nicht 72, als er die Relativitätstheorie veröffentlichte, sondern 26. Geht die Kreativität mit dem Alter verloren?
Physisch nicht, das Gehirn bleibt in dieser Hinsicht leistungsfähig, wie viele Künstler und Schriftsteller zeigen. Was im Alter allerdings nachlässt, ist die Neugier – darum gehen Disruptionen selten auf ältere Menschen zurück. Was sie aber besonders gut können, ist aus bestehendem Wissen über Assoziationen neue Lösungen zu entwickeln.
„Wenn wir gar nichts über ein Thema wissen, reagiert unser Gehirn leider sehr unglücklich: All unsere Vorurteile werden verstärkt, und wir nehmen nur wahr, was wir vorher schon zu wissen glaubten.“
Die Domäne des Menschen … Wie unterscheidet sich unser Gehirn denn von der digitalen Welt und insbesondere von künstlicher Intelligenz?
Die digitale Welt vergisst nicht, wir schon. Das ist auch gut so, weil ein Übermaß an Detailwissen unser Denken verlangsamt. Unser Gehirn geht hoch selektiv mit Informationen um, bündelt sie und fasst sie zu abstrakten Konzepten zusammen. Wir können Wissen einordnen und Emotionen mit Informationen verbinden. All das kann selbst die modernste KI noch nicht. Viel von dem, was uns leichtfällt, fällt KI ungeheuer schwer.
Trotzdem überlassen wir künftig der KI nicht nur das Sammeln und Aufbereiten von Fakten, wir lassen uns auch Einschätzungen und Ratschläge geben. Wie können wir die ohne Wissen prüfen?
Dafür brauchen wir zwingend Wissen im Kopf – ich benutze dafür gern den Begriff der Co-Intelligenz. Wir können die Möglichkeiten der KI sehr gut nutzen, um die Schwächen unseres Gehirns abzumildern. Aber dafür müssen wir sie intelligent anwenden. Wenn die KI klüger wird, müssen auch wir klüger werden. Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit breitem Wissen über ein Fachgebiet KI-Systeme viel effizienter nutzen können. Zahlreiche Auswürfe sind Unsinn oder nur halb richtig, und wir sind ja selbst immer der Beginn der Interaktion – ohne kluge Fragen gibt es keine klugen Antworten. Vor allem aber: Probleme zu definieren, die eine Lösung erfordern, ist eine Aufgabe für uns Menschen. Da spielen Zielsetzungen, Ethik und Moral eine Rolle. Das kann uns die KI nicht abnehmen.
01/2025
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.