Die „Tokenisierung“ von Vermögenswerten könnte die Wirtschaft deutlich verändern. Welche Chancen und Grenzen hat die Entwicklung, die Intermediäre überflüssig machen könnte?
Die Verheißung der Tokenisierung ist groß: Vermittler wie Banken („Intermediäre“) sollen überflüssig und vormals nur wenigen Investoren zugängliche Assets ohne größeren Aufwand in kleinste Tranchen unterteilt werden können. Der Aufwand für ein zentrales Register soll entfallen, der Sekundärhandel soll deutlich erleichtert werden. Die digitale Lösung soll nicht nur Geld und Zeit sparen, sondern auch transparent und flexibel sein. Ganz unterschiedliche Assets – ob Immobilie, Kunstwerk, Aktie oder Lizenz – sind in so unterschiedlichen Währungen wie Euro oder Bonusmeilen handelbar. Und: Sie können sehr flexibel gestaltet und ausgestattet werden, beispielsweise mit Vorkaufs-, Informations-, Genuss-, Mitbestimmungs- oder Kontrollrechten.
Spannende Informationen und relevante Themen aus der Wirtschaft und Finanzwelt in kompakter Form für Ihren unternehmerischen Alltag und für Ihre strategischen Entscheidungen.
Wir machen Wirtschaftsthemen zu einem Erlebnis.
16 Billionen US-Dollar
könnten tokenisierte Vermögenswerte 2030 bereits betragen
Möglich macht all das die Blockchain, in der die Eigentumsrechte eindeutig und fälschungssicher digital gespeichert werden. Bislang wird sie vor allem für (Krypto)währungstransaktionen verwendet, doch die Blockchain lässt sich grundsätzlich auf alle Assets anwenden: von der Aktie über die teure Damenhandtasche bis zum Büroturm. Dazu ist – anders als bei vielen Kunstwerken, die in Form von Non-Fungible Tokens (NFTs) vor rund einem Jahr einen wahren Hype erlebten – keine digitale Kopie des Assets selbst notwendig, sondern nur eine Digitalisierung der Eigentumsrechte.
Berater wie Roland Berger erwarten dank der Tokenisierung allein im Aktienhandel Kosteneinsparungen von 24,6 Milliarden Euro oder um rund 24 Prozent der bisherigen „tatsächlichen“ Kosten. Die Boston Consulting Group und die Digitalbörse ADDX gehen davon aus, dass tokenisierte Vermögenswerte 2030 bereits ein Volumen von 16 Billionen US-Dollar erreichen werden – zehn Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts. Dabei sind es neben Assets mit bestehenden Sekundärmärkten besonders Assets ohne (etablierte) Sekundärmarkte, die von der Tokenisierung profitieren würden, sagt Vera Neidl von der Deutschen Bank. „Im Bereich illiquider Assets ist es vor allem der Kunstbereich. Aber auch bei privaten Kapitalmärkten oder bei Immobilien kann die Tokenisierung echte Vorteile bringen.“ Kunstwerke im Wert von Millionen könnten gemeinschaftlich ersteigert werden, ein Büroturm künftig statt einiger weniger Tausende Eigentümer haben, die nicht über eine aufwendige Fondsstruktur mit entsprechenden Verwaltungskosten investieren müssten.
Noch ist die Wirklichkeit längst nicht so weit. Die Blockchain-Technologie ist heute viel zu träge und aufwendig, um wie die etablierten Aktienhandelssysteme täglich eine riesige Zahl an Transaktionen reibungslos abzuwickeln. Wenn sich durch die beliebige Stückelung bislang „nicht fungibler“ Assets aber wirklich ganz neue Investorengruppen finden und der Sekundärhandel vereinfacht wird, dürfte die Gesamtzahl aller Transaktionen deutlich steigen. Ende 2020 betrug der Sekundärmarkt an tokenisierten Vermögenswerten in den USA nach Angaben der Security Token Group erst 366 Millionen US-Dollar, ein Bruchteil etablierter Sekundärmärkte.
Bemerkenswert ist jedoch das Wachstum – gegenüber dem Vorjahr hatte sich das Volumen mehr als versechsfacht. Weltweit erwarten BCG und ADDX für dieses Jahr ein Volumen von 310 Milliarden US-Dollar. Dabei befindet sich der Markt weitgehend in der Pilotphase. Im Frühjahr 2021 emittierte der DAX-notierte Wohnungsbaukonzern Vonovia die erste Digitalanleihe. Die Forderungen für die Namensschuldverschreibung in Höhe von insgesamt 20 Millionen Euro wurden in sogenannten Security Tokens auf der Stellar-Blockchain hinterlegt. In Deutschland ermöglicht das Start-up Linus Digital Finance Anlegern, ab einem Investment von 50 000 Euro Anteilseigner an Immobilien zu werden, wobei das Co-Investment mit einem tokenisierten Treuhandverhältnis auf der Ethereum-Blockchain registriert wird.
Finanzinvestor KKR, der immerhin Vermögen in Höhe von rund 470 Milliarden US-Dollar verwaltet, will schon bald einen Private-Equity-Healthcare-Fonds auf der AVAX-Blockchain „tokenisieren“. Erste Schritte gehen auch Fußballvereine, die digitale Spielerposter via NFTs kopiersicher verkaufen. Oder SWIFT, das im Oktober einen Pilotversuch zur Verknüpfung von Tokenisierungssystemen mit Zentralverwahrern (CSDs) und Global Custodians erfolgreich beendet hat. Die Wirtschaftskanzlei DLA Piper hat eine eigene Security-Token-Plattform vorgestellt, und die Hamburger Reederei Vogemann emittierte einen „Green Ship Token“.
Tokenisierung eröffnet den Zugang zu ganz neuen Investoren
Die Beispiele zeigen, dass die Tokenisierung nicht nur neue Investment-, sondern auch entsprechende Finanzierungsmöglichkeiten und Geschäftsmodelle ermöglicht. Bei geringeren Kosten und einer feineren Stückelung können neue Investorengruppen angesprochen werden. Zugleich sind beispielsweise Anleihen auch für kleinere Unternehmen einfacher zu begeben, bei denen die geringe Finanzierungssumme den Kostenaufwand bislang nicht gelohnt hätte. Vera Neidl von der Deutschen Bank geht davon aus, dass sich „die Infrastruktur insbesondere in den Sekundärmärkten und für die Nachhandelsprozesse stark verändern“ wird. Dennoch sieht sie auch die Grenzen. „Ohne einen liquiden Sekundärmarkt bringen auch Token wenig, wenn niemand sie kaufen will.“ Das mussten gerade viele Eigentümer digitaler Kunstwerke erfahren – mit fallenden Kryptowährungskursen sank auch der Wert dieser NFTs. Schon im April meldete Bloomberg, ein Drittel der NFTs sei komplett wertlos, ein weiteres Drittel werde zu geringen Preisen vermarktet. Auch im Immobilienbereich könnte es zu einer Unterversorgung mit Liquidität kommen, wenn Investoren langfristig anlegen und entsprechend selten handeln. Wenn dann ein Großinvestor verkauft, beeinflusst das gleich die gesamte Bewertung des Assets.
„Vor allem im Kunstbereich, aber auch bei privaten Kapitalmärkten oder bei Immobilien kann die Tokenisierung echte Vorteile bringen.“
Vera Neidl, Deutsche Bank
Außerdem steigt die Gefahr von Fehlinvestitionen und Anlagebetrug, wenn bislang professionellen Investoren vorbehaltene Assetklassen nun auch für Privatanleger geöffnet werden. So hat der Boom bei Kunst-NFTs zu Fälschungen geführt; andere Token verfügten gar nicht über die Assets, die angegeben waren. Immer wieder machen auch Betrügereien virtueller Handels- und Verwahrplattformen in der Kryptowelt Schlagzeilen. In anderen Fällen wurden Sicherheitsmechanismen geknackt, sodass die automatisierten Vertragsregeln manipuliert und Eigentumsrechte übertragen werden konnten. Wenn Kosten sinken, können auch weniger erfolgreiche Geschäftsmodelle einfacher Zugang zum Markt finden. Unerfahrene Anleger tun sich aber schwer, schlecht gemanagte Immobilien oder unrealistische Ertragsprognosen zu identifizieren. Intermediäre wie Makler, Fondsmanager, Banken oder Gutachter erfüllen eine Gatekeeper-Funktion, die auch in der Token-Welt wertvoll sein dürfte. Ebenso könnten Intermediäre weiterhin benötigt werden für die Verwaltung der Token, etwa die Ausübung von Rechten, Zins- und Dividendenzahlungen sowie andere Kapitalmaßnahmen, Steuerrückerstattungen und Kenntnisse über lokale Marktusancen.
Gut möglich, dass das Wachstum der Token-Welt durch solche Probleme und manche Enttäuschung der Investoren Rückschläge erleiden wird. Dies war allerdings auch in der analogen Welt keine Seltenheit: Frisierte Geschäftsmodelle, windige Anleihen und enttäuschte Kleinanleger gab es schon lange vor der Blockchain. Bei der Tokenisierung stehen Regulierung, Technologie und Markt erst am Anfang ihrer Entwicklung. Doch die Chancen, Kosten einzusparen und neue Investoren zu erreichen, dürften dafür sorgen, dass sich die Tokenisierung langfristig durchsetzen wird. Allerdings nicht in jedem Bereich, der technisch tokenisiert werden könnte. Denn das Investment muss auch in der digitalen Welt noch ausreichend Anleger überzeugen.
11/2022
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.