„Overemployment“ ist ein neuer Trend unter IT-Arbeitnehmern aus den USA: Sie lassen sich von zwei oder mehr Unternehmen in Vollzeit anstellen, ohne dass diese voneinander wissen. Auch in Deutschland gibt es offenbar erste Fälle.
„Fünf Jobs, bei denen man vier und mehr Arbeitgeber zugleich haben kann.“ Auf der Website Overemployed.com geht es in allen Artikeln darum, wie man eine Mehrfachanstellung bekommt – und behält. Parallel in unterschiedlichen Jobs zu arbeiten war lange vor allem aus der Not geboren, weil das Einkommen aus einem Job Geringverdienern nicht zum Leben gereicht hätte. Doch auf Overemployed.com geht es um Arbeiten, die eine höhere Qualifikation erfordern. Als „OE“-freundlich werden Tätigkeiten wie Datenanalyst, Softwareingenieur oder IT-Administrator genannt. Dort beginnen die Einkommen bei 70.000 US-Dollar, können aber auch 200.000 US-Dollar und mehr erreichen. Dank Mehrfachanstellung lässt sich offenbar deutlich sechsstellig verdienen.
230.000
Menschen tauschen sich auf Reddit über „Overemployment“ aus.
Websites, die hohe Einkommen in Aussicht stellen, gibt es viele. Die wenigsten halten dieses Versprechen. Doch das Phänomen des Overemployment breitet sich seit gut anderthalb Jahren in den USA aus. Anonym schildern Arbeitnehmer, wie sie ihre unterschiedlichen Arbeitgeber jonglieren, welchen Stress das verursacht und was bei der Steuererklärung und anderen Dokumenten zu beachten ist. Informationen gibt es auch auf dem Board „Overemployed“ des Social-Media-Netzwerks Reddit. Das Spektrum dort reicht von ausführlichen Erfahrungsberichten bis zur Empfehlung für einen kleinen Schalter, bei dem man sehen kann, in welcher Videokonferenz man gerade spricht. Mehr als 230.000 Personen folgen diesem Reddit-Themenstrang.
Möglich ist der systematische Betrug, weil ein signifikanter Anteil von IT-Tätigkeiten inzwischen weitgehend oder sogar vollständig aus dem Home-Office möglich ist. Vorgesetzte können die Arbeitszeit meist nur per Videokonferenz kontrollieren. Mit automatisierten Tastatur- und Mausaktivitäten lässt sich Arbeit am Bildschirm simulieren. Bei Videokonferenzen hingegen kann es stressig werden, wenn zwei Termine parallel gelegt sind. Doch auch dafür gibt es Lösungen: Mit einer Kopfhörerseite lauscht man der einen, mit dem anderen Ohr der anderen Besprechung. „Mehrfachanstellung ist nur etwas für Leute, die in ihrem Job gut oder sehr gut sind, sonst wird es nicht klappen“, schreibt ein Multi-Angestellter.
Mit zynischem Stolz verweisen die Doppel- und Dreifacharbeiter auf Lobschreiben, in denen ihnen die Arbeitgeber vorbildliches Engagement bescheinigen. Wer eine Multi-Beschäftigung plant, sucht dabei gezielt nach Jobofferten, die viel Flexibilität und relativ wenig Ahnung der Vorgesetzten von IT-Arbeiten versprechen. Behäbige Traditionskonzerne, die erst relativ am Anfang ihrer digitalen Transformation stehen und keine Anwesenheit vor Ort erwarten, sind daher besonders begehrt. In den USA ist zuletzt das Angebot an reinen Home-Office-Tätigkeiten deutlich zurückgegangen; entsprechend groß ist die Bewerberzahl. Für die Arbeitgeber aber, die händeringend um die knappen IT-Fachkräfte buhlen, ist zumindest eine teilweise Erlaubnis zur Heimarbeit Voraussetzung, um überhaupt die offenen IT-Stellen besetzen zu können. Froh, überhaupt jemanden gefunden zu haben, geben sie sich auch eher mit Minderleistung zufrieden. Oder wie ein anonymer OE’ler schreibt: „Solange ich meinen Job einigermaßen erledige, wird mich mein erster Arbeitgeber niemals feuern – selbst, wenn meine Doppelanstellung aufliegt.“
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Dennoch versuchen die Multiangestellten, auf keinen Fall aufzufliegen. Die Tipps auf den einschlägigen Webseiten erinnern an Agentenfilme: Niemandem von der Job-Jonglage erzählen, oberflächliche Beziehungen zu Kollegen unterhalten, LinkedIn-Profile u.a. vorab löschen oder nur mit unkonkreten Angaben befüllen – so werde das Risiko minimiert, durch zufällige Querverbindungen von Vorgesetzen und Kollegen enttarnt zu werden. Kompliziert wird es jedoch bei Steuerthemen und Sozialabgaben. Denn auch in den USA ist dieses System auf eine und nicht mehrere Vollzeitarbeitsstellen ausgerichtet. So wird auf Overemployed.com empfohlen, gegebenenfalls freiwillig mehr an Abgaben zu zahlen, um dem zweiten Arbeitgeber nicht mitteilen zu müssen, dass man die Beitragsobergrenze bereits mit dem Einkommen von Job 1 erreicht hat. Knifflig wird es auch mit Aktienoptionen und anderen variablen Vergütungsanteilen, wie sie in Tech-Unternehmen verbreitet sind.
In Deutschland ist das Ganze noch komplizierter. So schreibt ein anonymer deutscher Doppelarbeiter: Neben Steuern und Sozialabgaben, die durch den Arbeitgeber abgeführt werden, gibt es noch ein Verbot von zu viel Arbeit. Mehr als 60 Wochenstunden sind nur kurzfristig und bei Ausgleich möglich, grundsätzlich ist die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden gesetzlich gedeckelt. Außerdem erfährt ein Arbeitgeber, wenn ein Mitarbeiter regelmäßig bezahlte Nebentätigkeiten ausübt; diese müssen in aller Regel vom Arbeitgeber schriftlich genehmigt sein.
Doch auch in Deutschland gibt es erste Versuche, diese Einschränkungen zu umgehen – wie erfolgreich diese letztlich sein werden, bleibt abzuwarten. Ein Anonymer hat etwa bei seinen Arbeitgebern angegeben, er schreibe nebenbei noch eine Doktorarbeit und müsse dafür eine Nebentätigkeit anmelden. Da dem jeweiligen Arbeitgeber weder der Name des anderen Arbeitgebers noch Umfang und Einkommen der „Nebentätigkeit“ bekannt werden, hätten seine Arbeitgeber die Erklärung akzeptiert. Ein anderer schreibt, er versuche seine Doppelarbeit durch die Anstellung bei einem Arbeitgeber in Deutschland und einem Nicht-EU-Arbeitgeber, der das Gehalt wiederum an eine Bankverbindung in einem Drittstaat überweisen soll, zu verschleiern.
Mehrfachangestellte spekulieren darauf, dass die Behörden stillhalten werden, solange alle Steuern und Abgaben bezahlt werden.
Wie erfolgreich solche Tricksereien sein werden, ist noch offen – auch den Mehrfacharbeitern sind die Unsicherheiten durchaus bewusst. Dabei spekulieren sie zum einen darauf, dass die Behörden stillhalten werden, solange alle Steuern und Abgaben bezahlt werden. Und zum anderen auf die geringe Digitalisierung in der Verwaltung, die Querverbindungen und Abgleiche erschwere. Sollte es dennoch Probleme geben, erwarten sie vor allem einen Konflikt mit ihren Arbeitgebern. Darum rüsten sie sich schon früh mit Zwischenzeugnissen, dass sie ihre Arbeit stets ordentlich erledigen.
Ob sich das Trendthema Overemployment wirklich verfestigt – und selbst in Deutschland mehr als eine exotische Randerscheinung bleibt – wird auch davon abhängen, wie tolerant Arbeitgeber mit vermutlichen Mehrfachangestellten umgehen werden. Bei vielen Unternehmen ist der Fachkräftemangel an vielen Stellen so eklatant, dass sie mit Bauchschmerzen zwei Augen zudrücken könnten, solange sie ihre eigenen Projekte und Aufgaben nicht gefährdet sehen.
10/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.