Der Hype um generative künstliche Intelligenz hält an. Doch in der Unternehmenspraxis ist die Einbindung von KI nicht so einfach. Bernard Marr, Technologie-Bestsellerautor und Strategieberater, sagt, wie sich die Lücken schließen lassen.
Herr Marr, die deutsche Wirtschaft könnte einer IW-Studie zufolge zusätzliche 330 Milliarden Euro an Wertschöpfung generieren, wenn mindestens die Hälfte der Unternehmen generative KI konsequent einsetzte. Ganz so weit sind die deutschen Unternehmen noch nicht, oder?
Generative KI beginnt gerade erst, in deutschen Unternehmen Alltag zu werden. Im Vergleich zu Ländern wie den USA oder China, wo die Adoption von KI-Technologien tendenziell schneller voranschreitet, hinkt Deutschland etwas hinterher. Trotzdem gibt es eine klare Bewegung hin zur Nutzung generativer KI, vor allem in den Bereichen Automatisierung, Kundeninteraktion und Produktentwicklung.
In welchen Bereichen wird generative KI bereits besonders häufig eingesetzt?
Aktuell sind Anwendungen wie Chatbots für den Kundenservice, die automatisierte Content-Erstellung sowie die Prozessautomatisierung in der Produktion und im Backoffice weitverbreitet.
„KI kann die Lücke zwischen weniger leistungsstarken und hochleistungsstarken Mitarbeitenden schließen“
Sind diese Anwendungen auch die größten Werttreiber?
Sie bieten auf jeden Fall erhebliches Potenzial für Wertschöpfung, vor allem wenn man den Fachkräftemangel und die Notwendigkeit der digitalen Transformation deutscher Unternehmen betrachtet. Generative KI kann dabei helfen, den Mangel an Fachkräften zu überbrücken, indem Routineaufgaben automatisiert und damit Ressourcen für kreativere und strategischere Aufgaben freigesetzt werden.
Was hält Unternehmen heute davon ab, KI schon intensiver einzusetzen?
Das liegt teilweise an der konservativeren Haltung deutscher Unternehmen gegenüber neuen Technologien und den strengeren Datenschutzgesetzen. Ein wesentliches Hindernis für eine intensivere Nutzung von KI in Unternehmen ist zudem mangelndes Fachwissen, wie solche Technologien effektiv implementiert und genutzt werden. Hinzu kommen die Angst vor dem Unbekannten und die Sorge um Datenschutz und Sicherheit. Bemerkenswert ist auch der Unterschied zwischen den Generationen. Während bereits 70 Prozent der Generation Z künstliche Intelligenz verwenden, ist es in der Gen X umgekehrt: 68 Prozent haben noch nie KI genutzt. Unternehmen müssen daher die digitale Kompetenz ihrer Belegschaft über alle Generationen hinweg verbessern, um diese Lücke zu schließen. Initiativen für lebenslanges Lernen und der Einsatz von KI zur Unterstützung personalisierter Lernwege können hier einen Beitrag leisten.
Bestsellerautor, Futurist und Berater Bernard Marr schreibt regelmäßig im „Forbes Magazine“, seine Bücher wurden in 20 Sprachen übersetzt. Seinen Social-Media-Aktivitäten folgen mehr als zwei Millionen Menschen weltweit. Zu seinen Kunden zählen Unternehmen und Institutionen wie Amazon, NHS, DHL und Walmart. Sein aktuelles Buch „Generative AI in Practice“ ist Ende März erschienen. Marr lebt nahe London.
Spannende Informationen und relevante Themen aus der Wirtschaft und Finanzwelt in kompakter Form für Ihren unternehmerischen Alltag und für Ihre strategischen Entscheidungen.
Wir machen Wirtschaftsthemen zu einem Erlebnis.
Viele Unternehmen fürchten Kosten oder Haftungsrisiken durch Fehler der KI. Im Februar beispielsweise erstritt ein Kunde von Air Canada das Recht, eine falsche Rabattzusage ihres Chatbots in Anspruch zu nehmen. Was können Unternehmen tun, um das zu verhindern?
Die Frage der Haftung bei Fehlern von KI-Systemen wie im Fall von Air Canada ist komplex. Air Canada hatte argumentiert, der Chatbot sei eine eigene rechtliche Einheit – das wurde abgewiesen. Es ist aber unrealistisch, auf absolut fehlerfreie Systeme zu warten. KI birgt, wie jede Technologie, immer ein gewisses Fehlerpotenzial. Unternehmen sollten das Risiko abwägen und KI verantwortungsvoll einsetzen, indem sie transparent über deren Grenzen informieren und kontinuierlich an der Verbesserung der Genauigkeit arbeiten. Risikomanagement und eine klare Kommunikation sind hierbei entscheidend.
Wie wird generative KI die Personalstruktur eines Unternehmens verändern? Bleibt alles gleich, nur dass alle produktiver werden?
KI wird die Personalstruktur in Unternehmen verändern, aber nicht unbedingt reduzieren. Vielmehr wird es eine Verschiebung geben: Routineaufgaben werden zunehmend automatisiert. Dafür haben Mitarbeitende mehr Zeit, sich auf höherwertige Aufgaben zu konzentrieren. Einige Positionen, vor allem im Bereich der Dateneingabe oder einfachen Analyse, könnten überflüssig werden. Zugleich wird aber die Nachfrage nach KI-Spezialisten, Datenanalysten und anderen technischen Rollen steigen. Die Nachfrage nach Qualifikationen wird sich verändern, ohne dass es in Summe einen großen Stellenabbau geben wird.
„KI birgt, wie jede Technologie, immer ein gewisses Fehlerpotenzial. Unternehmen sollten das Risiko abwägen und KI verantwortungsvoll einsetzen.“
Was ist mit Führungskräften? Werden die überflüssig durch KI?
Menschliche Intuition und Kreativität werden weiterhin gefragt sein. Ich erwarte daher nicht, dass KI Führungskräfte ersetzen wird – sie wird sie aber ebenso wie Spezialisten bei ihrer Arbeit unterstützen.
Werden von KI vor allem die leistungsstarken oder die weniger leistungsstarken Mitarbeiter profitieren?
Studien haben gezeigt, dass bisher vor allem die weniger leistungsstarken Mitarbeitenden profitieren, die Top-Performer hingegen deutlich weniger. KI hilft, Defizite auszugleichen – von denen haben die weniger Leistungsstarken mehr. Das heißt, KI kann die Lücke zwischen weniger leistungsstarken und hochleistungsstarken Mitarbeitenden schließen. Das dürfte zunächst ein anhaltender Trend sein, da KI den Zugang zu Informationen und Tools demokratisiert. Langfristig jedoch könnte die Technologie die „High-Performer“ noch stärker machen, weil sie individuelle Effizienz und Entscheidungsfindung verbessert. High-Performer könnten besser wissen, wie sie KI für bessere Leistungen gezielt einsetzen. Zugleich wissen sie aber, wo die KI ihre Grenzen hat. Die größte Herausforderung für Unternehmen wird sein, ein Gleichgewicht zu finden, das allen Mitarbeitenden hilft, ihr Potenzial zu maximieren.
2023 war der Hype um generative KI riesig. Kommt jetzt die Zeit der Ernüchterung?
Der Hype um generative KI wird voraussichtlich anhalten, da die technologische Entwicklung nicht stillsteht. 2024 könnte durchaus weitere Durchbrüche und innovative Anwendungen bringen. Allerdings könnte es auch zu einer gewissen Ernüchterung kommen, wenn Unternehmen die praktischen Herausforderungen der Implementierung und Integration in bestehende Systeme erkennen. Der Schlüssel zum Erfolg wird in der Entwicklung ethischer Rahmenbedingungen, der Förderung von Bildung und Kompetenzentwicklung sowie der Schaffung transparenter und verantwortungsvoller Nutzungskonzepte liegen.
06/2024
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.