Beseitigt KI den Arbeitskräftemangel?

Künstliche Intelligenz kann menschliche Arbeit in vielen unterschiedlichen Berufsfeldern ersetzen. Könnte sie dadurch helfen, den Arbeitskräftemangel in Deutschland zu mindern? Oder wird der Mangel noch größer?

In der deutschen Gastronomie fehlt es an Fachkräften. Doch dass wie in Japan als Kellner eingesetzt werden, ist bislang unvorstellbar. Wird es mit KI in anderen Bereichen mit Arbeitskräftemangel anders werden?

In der deutschen Gastronomie fehlt es an Fachkräften. Doch dass wie in Japan als Kellner eingesetzt werden, ist bislang unvorstellbar. Wird es mit KI in anderen Bereichen mit Arbeitskräftemangel anders werden? Foto: picture alliance/dpa/Jiji Press

Ersetzte der technologische Fortschritt bislang vor allem Arbeiter in der industriellen Produktion, könnten die jüngsten Entwicklungen im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) nun zunehmend auch akademische Berufsbilder treffen. Obwohl ChatGPT erst Ende 2022 öffentlich zugänglich wurde, sind seitdem in nie dagewesener Geschwindigkeit Weiterentwicklungen erschienen, die vor allem im kreativen Bereich das Disruptionspotenzial solcher sogenannten Large Language Models (LLM) aufzeigen: Aus einfachem Text entstehen Bilder, die kaum von echten Fotografien zu unterscheiden sind. Mit nur wenigen Stichworten verfasst die KI umfassende Texte, kann Software ohne Kenntnis von Programmiersprachen erstellt werden. Schon bald könnten neue Medikamente schneller entwickelt, Bücher automatisch übersetzt, Bilanzen überprüft, Verträge erstellt werden.

Goldman Sachs hat Ende März geschätzt, dass künftig 300 Millionen Jobs weltweit von KI betroffen sein werden. Diese Warnungen sind nicht neu, im Gegenteil: Seit Jahren werden dramatische Schätzungen veröffentlicht, welche Berufe KI überflüssig macht. Doch mit ChatGPT sind die Fähigkeiten von KI deutlich konkreter, sichtbarer geworden. Plötzlich wird klar: Es geht nicht so sehr um eine Automatisierung repetitiver Arbeiten, sondern auch um kreative.

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OpenAI, das Unternehmen hinter ChatGPT, hat im März eine eigene Einschätzung zum Einfluss von LLM auf unterschiedliche Berufsfelder in den USA veröffentlicht. Besonders betroffen sind demnach Mathematiker, Steuerberater, quantitative Finanzanalysten, Schriftsteller, Webdesigner, Gerichtsreporter, PR-Spezialisten. Aber auch Übersetzer und Dolmetscher, Tierforscher, Blockchain-Ingenieure, Schadensgutachter und Lektoren werden sich gegen Künstliche Intelligenz behaupten müssen. Die Forschungsarbeit macht dabei keine Aussage, ob dies auch einen Arbeitsplatzabbau in den betroffenen Berufen bedeutet. Doch je mehr von einem bestehenden Berufsbild substituiert werden kann, desto wahrscheinlich ist ein Abbau.

Die Bereiche mit den größten Fachkräftelücken

Automatisierung verdrängt – und schafft neue Bedarfe

Die bisherige Geschichte der Automatisierung zeigt allerdings, dass zwar viele bestehende Tätigkeiten wegrationalisiert wurden, doch auch neue entstanden sind und sich Berufe verändern. So können die LLM-KI-Systeme vieles deutlich schneller generieren als Menschen, doch sind die Ergebnisse oft noch fehlerbehaftet. Eine eigenständige Arbeit der KI ohne menschliche Führung und Kontrolle ist zumindest bei den heutigen LLM-Modellen undenkbar. Auf absehbare Zeit dürfte daher gelten: Die KI allein wird keinen Menschen ersetzen, aber Menschen, die KI nutzen, ersetzen solche ohne KI. Das heißt, wer sich nicht mit den Möglichkeiten von KI befasst, dürfte es künftig schwerer haben.

Nur: Was bedeutet das für den aktuellen Arbeitskräftemangel in Deutschland? Die OpenAI-Studie zeigt eben auch, dass KI viele Berufsfelder mit Arbeitskräftemangel nur in geringerem Umfang beeinflussen wird. Im Handwerk kann KI die Arbeitsabläufe optimieren, Fahrtrouten planen und Abrechnungen vereinfachen. Das Rohr kann sie aber nicht verlegen. Kleinkinder werden weiterhin den menschlichen Kindergärtner benötigen, der Sozialarbeiter wird seine menschliche Interaktion nicht sinnvoll an eine Künstliche Intelligenz auslagern. In anderen Feldern kann KI mit autonomen Systemen wie selbstfahrenden Fahrzeugen Bedarfslücken schließen – doch bis diese in der Breite verfügbar sind, sind nicht nur technische, sondern auch rechtliche und ethische Fragen zu klären. Das wird mindestens noch einige Jahre in Anspruch nehmen.

Entlastung für gefragte Berufe

Wenn Pflegekräfte weniger Zeit mit der Dokumentation verbringen müssen und der Handwerksmeister bei der Verwaltung seines Betriebs entlastet wird, bleibt mehr Zeit für die Kernaufgaben wie Pflege oder handwerkliche Arbeit. So sinkt der Bedarf an Arbeitskräften in diesen unterbesetzten Berufsfeldern. Doch es ist ungewiss, ob dadurch die Berufsfelder nicht sogar weiter an Attraktivität verlieren. Denn gerade die „schmutzigen“ und „anstrengenden“ Elemente des Berufs steigen. Dann würde der Bedarf an Arbeitskräften zwar sinken, das Angebot aber vielleicht sogar noch stärker. Es gibt schon heute nur einen relativ geringen Stellenüberhang beispielsweise bei Berufskraftfahrern. Anders ausgedrückt: Ein hoher Anteil derer, die per Qualifikation als Lkw-Fahrer tätig sein könnten, arbeitet nicht als solcher. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die lange Abwesenheit von Zuhause und Familie den Beruf für junge Menschen wenig attraktiv erscheinen lässt. Wenn allerdings Menschen, die bisher als Übersetzer, Steuerberater, Investmentfondsmanager oder Grafikdesigner gearbeitet haben, sich wegen der KI beruflich umorientieren müssen, könnten sie eine zweite Karriere in Pflege, Handwerk oder Logistik einschlagen.

Wahrscheinlich werden sie aber bevorzugt in andere akademische Berufe mit einer vergleichbaren körperlichen Anstrengung, ähnlichem Büroarbeitsanteil und Gehalt wechseln wollen. Das dürfte allerdings schwieriger werden, weil so viele akademische Schreibtischtätigkeiten von der KI-Automatisierung betroffen sind. Die Liste der Berufe, die laut OpenAI „KI-frei“ bleiben dürften, umfasst vor allem Tätigkeiten mit geringer Qualifikation wie Tellerwäscher oder starker körperlicher Anstrengung wie Bodenverleger.

„Es bleibt abzuwarten, wie schnell KI in der Arbeitspraxis wirklich umgesetzt werden wird.“

Marc Schattenberg, Deutsche Bank Research

Bislang hat es solch radikale Berufsveränderungen, von den viele Personen annähernd gleichzeitig betroffen waren, in der jüngeren Vergangenheit vor allem bei großen biografischen Brüchen wie nach dem Ende der DDR oder bei Migranten zum Beispiel aus Kriegsgebieten gegeben – wenn der Ingenieur als Handwerker oder die Rechtsanwältin an der Supermarktkasse arbeitet. Ob die KI-Disruption so radikal sein wird, die Einkommenschancen beispielsweise für Juristen oder Journalisten so massiv sinken werden, dass es zu signifikanten Berufswechslerzahlen kommen wird, bleibt abzuwarten.

„Wir haben in Europa einen relativ starren Arbeitsmarkt, nicht zuletzt aufgrund der finanziellen und rechtlichen Absicherungen für Arbeitnehmer“, sagt Arbeitsmarktexperte Marc Schattenberg von Deutsche Bank Research. „Zudem haben sich Berufsfelder auch in der Vergangenheit immer wieder verändert und die Menschen mit ihnen. Es bleibt zudem abzuwarten, wie schnell KI in der Arbeitspraxis wirklich umgesetzt werden wird. Wahrscheinlich ist aber, dass die Realität dann weniger eindeutig sein wird, als die Ergebnisse der Studien zur Substitution von Arbeitsplätzen bislang teilweise suggerieren.“ Einer aktuellen Bitkom-Umfrage unter deutschen Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern zufolge plant erst jedes sechste Unternehmen den Einsatz von ChatGPT & Co., mehr als die Hälfte der Unternehmen hat sich noch gar nicht damit befasst (25 Prozent) oder schließt den Einsatz kategorisch aus (29 Prozent). Offiziell nutzt angeblich noch keines der Unternehmen solche KI-Anwendungen.

Hilfe beim IT-Mangel

In mindestens einem Feld dürfte KI aber die Fachkräftelücke schließen. IT-Kräfte sind auch in Deutschland sehr begehrt, die Stellenüberhangquote ist extrem hoch (siehe Grafik). Weil KI die Programmierung erheblich erleichtert, können Programmierer produktiver werden. Davon dürften vor allem selbstständige Programmierer oder Unternehmen mit vorhandenen IT-Arbeitskräften profitieren: Sie können ihre bestehenden Qualifikationen und Kapazitäten hebeln.

Doch auch diese Entwicklung dürfte nur von begrenzter Dauer sein. Schon jetzt zeigt die Entwicklungsgeschwindigkeit neuer Applikationen, dass Software zu einer Commodity werden wird. Wollen Unternehmen sich vom Wettbewerb absetzen, werden sie IT-Fachkräfte benötigen, die vor allem im Bereich KI-Programmierung und -Steuerung versiert sind. Diese Qualifikationen sind Voraussetzung unter anderem für die gezielte Entwicklung eigener KI-Modelle, die besondere Fähigkeiten haben und nicht nur Standardmodelle einsetzen. Menschen mit diesen Fähigkeiten werden auf absehbare Zeit sehr rar sein.

Auch außerhalb der bekannten „Problembereiche“ wie Handwerk und IT klagen Unternehmen über qualifizierte Bewerber. KI hat das Potenzial, hier ebenfalls Lücken zu schließen. Gelingen wird dies allerdings nur, wenn Unternehmen und ihre Belegschaften KI produktiv einsetzen können. Das setzt voraus, dass die vorhandenen Arbeitskräfte entsprechend weitergebildet werden. „Vor den Unternehmen liegt eine große Weiterbildungsaufgabe. Sie müssen ihre Mitarbeiter an die neuen Möglichkeiten durch KI heranführen. Das wird Zeit beanspruchen. Bislang befassen sich viele Menschen vor allem aus Eigeninteresse mit KI, meist in ihrer Freizeit. Doch längst nicht jeder hat diese Zeit“, beobachtet Arbeitsmarktexperte Schattenberg. „Da ist mehr Flexibilität bei den Arbeitgebern gefordert.“

Weiterentwickelte LLM-KI könnte – vorausgesetzt, die Voraussetzungen in den Unternehmen für eine effiziente Nutzung sind geschaffen worden – manche Arbeitskräftelücke schrumpfen. Doch eine neue, große Arbeitskräftelücke rund um KI-Systeme ist schon jetzt zu erkennen.

04/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.

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