Droht eine Renaissance der Planwirtschaft? Die Eingriffe des Staats werden zumindest einschneidender. Das liegt nicht nur an geopolitischen Herausforderungen und dem Klimawandel, sondern auch an der Digitalisierung. Aber ausgemacht ist die Sache längst nicht.
Vor allem in konservativen Kreisen wird bereits das Schreckgespenst der „Kriegswirtschaft“ beschworen. Tatsächlich ist Deutschland (und der Rest Europas) durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine in Zugzwang gekommen, denn Wladimir Putin nutzt den Zugang zu Gas in seinem Sinne. Der Gasmangel birgt das Potenzial gesellschaftlicher Unruhen, und dessen ist sich die Bundesregierung sehr bewusst. Auch darum hat die Regierung schon lange vor Beginn der Heizsaison damit begonnen, Bürger und Wirtschaft auf Engpässe vorzubereiten und sich Zuteilung und Preissetzung von Gas vorzubehalten. Damit ist Deutschland zwar immer noch weit entfernt von einer Kriegswirtschaft wie im vergangenen Jahrhundert, als vor allem Kriegs- und Rüstungsnutzen – und der Zugang zu den politischen Entscheidern – über die Verteilung von Ressourcen entschieden. Anhänger der reinen Marktwirtschaftslehre sehen jedoch mindestens eine Kommandowirtschaft am Horizont aufziehen. Droht die Planwirtschaft?
Wenn wir Zugang zu allen Daten haben, finden wir die ›unsichtbare Hand des Markts‹.
Jack Ma, Alibaba
Anekdotisch ließen sich viele Belege dafür finden, dass der Staat immer stärker regulierend in Marktentscheidungen eingreift. Doch seit den 1970er-Jahren bleibt für Deutschland der „Economic Freedom Score“ – quasi der Maßstab, wie kapitalistisch ein Land ist – des US-amerikanischen Fraser Institute bemerkenswert stabil. Deutschland ist weltweit eines der Länder mit den größten wirtschaftlichen Freiheitsgraden. So könnte man auch diesmal argumentieren, eine mögliche staatlich verordnete „Gas-Triage“ sei, wie bei der Bankenrettung in der Weltfinanzkrise 2008/09 oder den Zwangsschließungen von Geschäften und der Gastronomie während der Pandemie, nur eine notwendige Reaktion auf eine akute Krise. Ist die Krise vorüber, wird das alte Equilibrium wiederhergestellt.
Nur: Manches spricht dafür, dass auch der Kapitalismus vor einer Zeitenwende steht.
So gut der Kapitalismus in Summe Wohlstand schafft, so wenig kümmert er sich um eine Teilhabe aller an diesem Wohlstand, um schonenden Umgang mit endlichen Ressourcen und die allgemeine Versorgungssicherheit. Dabei ist historisch betrachtet keine Wirtschaftsstruktur besser geeignet, Wohlstand zu schaffen. Das zeigt nicht nur der Aufstieg des Westens, sondern auch das rasante Wirtschaftswachstum in China, Indien und anderen Ländern, die ihre Wirtschaft liberalisiert haben. Ebenso ist aber unumstritten, dass die Verteilung genau dieses Wohlstands sehr ungleich ist, was nicht nur für die von Armut Betroffenen Folgen hat, sondern oft auch innere, gewalttätige Konflikte auslöst.
Die meisten kapitalistischen Staaten verteilen daher unterschiedlich große Teile der Einkünfte per Steuer um und versuchen so, soziale Konflikte einzuhegen. Auch in Fragen der Versorgungssicherheit und der Nachhaltigkeit greift die Politik in unternehmerische Freiheiten ein. Doch offenbar reicht das nicht (mehr) aus, weil soziale Konflikte, Umweltfolgeschäden und Bedrohungen der Versorgung stärker werden. Der Staat wird handeln und – so wie es in nicht demokratischen Ländern wie China und Russland längst der Fall ist – das Primat der Politik immer öfter über das der Wirtschaft stellen, will er nicht zum Spielball der aktuellen Entwicklungen werden. Externe Kosten wie der Ressourcenverbrauch steigen (siehe Artikel „Ein Preis für die Natur“, Seite 26), ebenso die Kosten für die Wehrhaftigkeit der Demokratie, ob für Angreifer aus dem Innern oder von außen. Das klingt teuer und führt schnell zu Ineffizienzen, wie das Extrem des realen Sozialismus zeigt, gegen dessen Schwächen auch die des Kapitalismus verblassen. Doch welchen Weg könnten wir einschlagen, damit der Staat die aktuellen Aufgaben löst, die der Kapitalismus nicht in den Griff bekommt? Ausgerechnet der chinesische Multimilliardär Jack Ma, Gründer der Handelsplattform Alibaba, argumentiert, Big Data und künstliche Intelligenz könnten die Schwächen zentraler Systeme ausgleichen: Nach seiner Auffassung ist die zentral gesteuerte Planwirtschaft früher an mangelnden Daten gescheitert; künftig könnten Algorithmen ebenso gut und schnell wie der Markt berechnen, welche Bedarfe es gibt.
Schon längst machen sich Privatunternehmen die neuen Möglichkeiten zunutze, ob bei der Entwicklung von Investmentstrategien oder – wie Amazon – bei der vorausschauenden Lieferung von Waren, noch bevor sie bestellt worden sind. Bereits 2018 hat der Pekinger Professor Feng Xiang Argumente geliefert, warum Individuen und Privatfirmen nicht Nutznießer dieser neuen Möglichkeiten sein dürften: KI werde die Ungleichverteilung zwischen wenigen Oligopolisten und der übergroßen Mehrheit obsolet gewordener Arbeitskräfte so weit verschärfen, dass es die Gesellschaft sprengen werde. Marktwirtschaft wäre dann ein Garant für sozialen Absturz – solange es nicht gelingt, den Wohlstand an die Verlierer der KI umzuverteilen.
Das Argument scheint schlüssig. Wenn der Staat ohnehin für die Folgen der KI-Automatisierung aufkommen muss, könnte er mit einer Planwirtschaft 2.0 die negativen Auswirkungen abfedern. Ja, vielleicht zugleich weitere Übertreibungen wie Blasen, Umweltzerstörung und mehr einhegen – und dabei dennoch die Konsumwünsche der Bürger erfüllen oder selbst effektiv steuern, so wie es China versucht. Der Staat brauchte dabei keinesfalls perfekt zu sein, das ist der Markt auch nicht. Er müsste nur aus Sicht der Bürger einen befriedigenden Job machen.
Auch wenn KI eine bedarfsgerechte zentralgesteuerte Verteilung technisch möglich machen könnte, wäre mindestens fraglich, zu wessen Wohl dies geschähe. Während der Markt sich fast unendlich weit diversifizieren kann, sodass unterschiedlichste Bedarfe erfüllt werden können, würde ein staatlicher Akteur viel stärker sein Interesse einbringen und entsprechend die Algorithmen bestimmen. Das ist zweckmäßig, um beispielsweise gemäß dem Wählerwillen bei Zielkonflikten Prioritäten zu setzen. Selbst wenn diese Steuerungsmacht nicht missbraucht würde, bärge dies auch in einer offenen Demokratie das Potenzial für Missmut, weil zwangsläufig Mehrheitsinteressen (oder die Interessen der Wahlklientel) bedient werden. Ungesteuerte Innovationen, wie sie immer wieder Wirtschaftsgeschichte geschrieben haben, sind in einem solchen System kaum vorstellbar.
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55 Prozent der Deutschen
glaubten schon 2019, dass Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr schadet als nützt.
Dabei ist – das zeigt das aktuelle Update des bereits oben zitierten Edelman Trust Barometer – das Vertrauen in die Regierung durch die Coronakrise in vielen Staaten bereits stark erschüttert. Stattdessen liegt die Hoffnung (und Erwartung), wichtige gesellschaftliche Herausforderungen wie Klimawandel und wirtschaftliche Ungleichheit anzupacken, bei Unternehmen. Mehr als acht von zehn Teilnehmern der renommierten Umfrage möchten, dass CEOs das „Gesicht des Wandels“ werden – nicht die Politik.
Welchen Weg Deutschland und Europa letztlich einschlagen werden, ist längst nicht ausgemacht. Die Schwächen der bisherigen Ansätze liegen auf dem Tisch, an neuen Lösungen wie KI sind Zweifel angebracht. Gelingt es der Regierung, die erwartete Gaskrise erfolgreich zu managen, ohne eine Mehrheit der Bürger frieren, unterversorgt oder arbeitslos werden zu lassen, dürfte das die Politik ermutigen, dem Kapitalismus in Zukunft ein deutlich engeres Korsett zu verpassen. Wie eng dieses Korsett aber wird, wird auch vom Verhalten der Wirtschaft abhängen. Diese genießt bei den Menschen derzeit ein größeres Vertrauen als die Politik. Je schneller die Wirtschaft überzeugende kapitalistische Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit entwickelt, desto mehr Freiheiten (und Kapitalismus) werden am Ende bleiben.
01/2023
Chefredaktion: Bastian Frien und Boris Karkowski (verantwortlich im Sinne des Presserechts). Der Inhalt gibt nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers (Deutsche Bank AG) wieder.